Schluss. Aus. - Befreit? Befriedet?

Nachricht Sandbostel, 06. Mai 2020

Michael Freitag-Parey, Gedenkstättenarbeit Lager Sandbostel, zum 8. Mai 2020

Nach der bedingungslosen Kapitulation in Berlin am 2. Mai 1945 unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl am 7. Mai im Hauptquartier der Westalliierten im französischen Reims die bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht. Sie trat am folgenden Tag in Kraft. Dasselbe taten am 9. Mai Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel und andere Vertreter der Wehrmacht im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst. Im Osten stellten sowjetische und deutsche Soldaten ihre Kämpfe erst drei Tage später endgültig ein. Teile der NS-Führungselite waren zu diesem Zeitpunkt bereits geflohen oder hatten sich – wie Hitler und Goebbels – durch Selbstmord der Verantwortung für Völkermord und Kriegsverbrechen entzogen. 

Bereits am 5. Mai tritt eine Teilkapitulation für Nordwesteuropa in Kraft, die auch für Nordwestdeutschland gültig ist. In der hiesigen Region wird der Krieg bereits Ende April 1945 mit dem Einmarsch der britischen Truppen beendet.

Insgesamt kostete der Zweite Weltkrieg etwa 55 Millionen Menschen das Leben, die meisten von ihnen Zivilisten. Am stärksten war die Sowjetunion mit geschätzten 26 Millionen Toten betroffen. Annähernd sechs Millionen Juden waren ermordet worden, ebenso waren Hunderttausende Roma und Sinti, behinderte und kranke Menschen der Vernichtungspolitik des NS-Regimes zum Opfer gefallen. 

Für Millionen von Menschen weltweit war der 8. Mai eine Erlösung. Die Befreiung aus der Gefangenschaft. Nach zwölf Jahren Nationalsozialismus und sechs Jahren Krieg waren Adolf Hitler und dessen verbrecherisches Regime vernichtend geschlagen worden von alliierten Soldaten, Partisan*innen, Widerstandskämpfer*innen und mutigen Zivilist*innen. Neben der Freude über das Ende des Krieges machten sich jedoch im Alltag schnell schon bange Zukunftsfragen fest. Wie kann es weitergehen? Wie komme ich nach Hause? Wo bleibe ich? Was wird aus mir? Wie geht es meiner Familie? Wo ist meine Familie? Wo sind meine Freunde und wie geht es für sie weiter? Hinter diesen existenziellen Fragen blieb eine breite, objektive und transparente Aufarbeitung des Nationalsozialismus lange weit zurück.

Gustav Heinemann (1970) hielt als erster Bundespräsident Deutschlands eine Rede zum 8. Mai, fünf Jahre später sprach sein Nachfolger Walter Scheel in seiner Rede den Befreiungscharakter des 8. Mai an. Bundespräsident Weizsäckers Rede vor dem Parlament in Bonn am 8. Mai 1985 schließlich gilt bis heute als eine der wichtigsten Reden der deutschen Nachkriegszeit. Weizsäcker rückte den Tag ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit und trug durch seine Interpretation zu einem neuen Grundtenor der Erinnerungskultur in Deutschland bei: Nicht Kapitulation und Niederlage, sondern Befreiung von Krieg und Nationalsozialismus.

Krieg und Nationalsozialismus waren jedoch nicht von jetzt auf gleich und von heute auf morgen aus dem Alltag verbannt, das wusste wohl auch Weizäcker. Und so war es vielleicht eher der Beginn der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus. Dieser Prozess der Befreiung und der Arbeit für einen gerechten Frieden reicht bis in die heutige Zeit und weit darüber hinaus. Das Gute ist, dass der Mensch es selber in der Hand hat, diesen Prozess zu unterstützen und zu gestalten.

Das Unterstützen und das Gestalten des Friedens fängt im Kleinen an und persönlich. Die kirchliche Friedens- und Gedenkstättenarbeit ruft dazu auf, sich an einer Aktion zu beteiligen: Friedenstauben aus weißem Tonpapier auszuschneiden und diese sichtbar in die Fenster zur Straße hinaus zu hängen. Die Botschaft der Taube: Ich stehe auf für Frieden und Freiheit und beginne damit in meinem Umfeld! Nicht nur am 8. Mai. Und eine zweite Botschaft trägt die Taube: Ich gedenke der Opfer des Nationalsozialismus und trage sie als Mahnung mit mir. Sie sollen nicht umsonst gestorben sein. „Eine zweite Aktion kann sich daran anschließen“, so Freitag-Parey. „Nehmen wir diesen Tag als Ausgangspunkt, um im eigenen Umfeld danach zu sehen, wo Menschen Frieden und Freiheit benötigen und was jede/r persönlich dazu beitragen kann. Bestenfalls beginnen wir mit dieser Übung bei uns selbst und stellen uns der Frage, wo es in meinem Leben Klärung bedarf. Versöhnung. Vergebung.“ Dazu passt der biblische Blick auf die Taube und deren Aufgabe zum Ende der Geschichte der Arche Noah, so der Friedenspädagoge. „Sie ist diejenige, die Noah die gute Botschaft überbringt, dass sie Land gefunden hat. Das Land steht für neue Freiheit und neuen Frieden. Dafür steht der Ölzweig in ihrem Schnabel. Dieser Ölzweig liegt nun in meiner Hand. Er ist Anfang und Auftrag. Immer und immer wieder.“

Auf der Homepage der Kirchengemeinde Selsingen werden ab 8. Mai verschiedene, weitere Aktionen dazu vorgestellt. www.kirche-selsingen.de

Siehe auch: www.stiftung-lager-sandbostel

Zusätzlich dazu verweist Freitag-Parey auf die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano, die den 8. Mai als gesetzlichen Feiertag etablieren will. Bejarano wirbt dafür, dass gestritten wird für die neue Welt des Friedens und der Freiheit, die die befreiten Häftlinge im Schwur von Buchenwald als Auftrag an die folgenden Generationen hinterlassen haben.

Mehr dazu hier: https://www.change.org/p/8-mai-zum-feiertag-machen-was-75-jahre-nach-befreiung-vom-faschismus-getan-werden-muss-tagderbefreiung-bkagvat-bundesrat

Michael Freitag-Parey