Dieses Weihnachtsbild fasziniert mich. Es scheint zu zeigen, was wir gewohnt sind: Maria, Josef und das Kind, dazu Ochse und Esel. Und doch ist es eine ganz außergewöhnliche Darstellung: Maria sitzt entspannt im Bett und liest. Und Josef, der frischgebackene Vater, kümmert sich um das Neugeborene. Er hält es behutsam in seinen Armen und führt es ganz zärtlich nah an sein Gesicht. Ein großes, glückliches Staunen erfüllt seine Mimik: So verletzlich ist dieser Säugling, ein Wunder.
So verletzlich wie jedes Menschenkind, so schutz-bedürftig, wie auch wir auf die Welt gekommen sind, so klein kommt auch Gott selbst in diesem Kind im Stall von Bethlehem zur Welt.
Eine im Kindbett lesende Maria und ein Josef, der das Neugeborene zärtlich in seinen Armen hält. Moderner Genderwahn? Von wegen! Wir sehen eine französische Buchmalerei aus dem 15. Jahrhundert. Im Mittelalter sind solche Motive gar nicht selten. Die Klischeebilder mit der klassischen Rollenaufteilung sind meist jünger, Maria als engagierte Mutter, Josef etwas überflüssig mit einer Funzel dabei. In einer Zeit, in der nur wenige Menschen lesen konnten und Frauen noch weniger, wird die Mutter Jesu lesend gezeigt. Und Josef als liebevoller Vater. Wo Jesus zur Welt kommt, so verstehe ich, können Rollenklischees aufgebrochen werden. Da entdecken Menschen neue Seiten an sich. Sie werden weich und liebevoll. Oder sie erleben eine Bildungsrevolution. Ein richtig modernes Paar, indem Frau und Mann ihre herkömmlichen Rollen anders aufteilen. Bemerkenswert!
Außerdem: Maria und Josef sind in wunderbare, farbige Stoffe gekleidet (im Stall von Bethlehem wird das anders gewesen sein): Blau, Rot, Gold. Wo Gott zur Welt kommt, da wird es bunt.
Schließlich ist sogar ein bisschen Humor eingemalt: Der Esel scheint ein wenig am Heiligenschein des Josef zu knabbern. Sei’s drum. An der Weihnachtskrippe haben wir alle mit unseren kleinen und großen Eseleien Platz.
Ein Bild auch, dass die Fantasie anregt. Was liest Maria da wohl? Ein Erziehungsratgeber wird es wohl nicht sein. Aber vielleicht die Prophezeiungen des Alten Testaments, der hebräischen Bibel. Da ist die Rede davon, dass eines Tages ein Kind geboren wird, das mit wunderbaren Ehrentiteln wie „Wunder-Rat“ und „Friede-Fürst“ bedacht werden wird. Das Kind wird Gottes Friede und Gottes Liebe zu den Menschen bringen.
Vielleicht ahnt Maria aber auch bei ihrer Lektüre, dass diesem Kind viel Schweres bevorsteht. Denn die Weihnachtsgeschichte hält ja sehr verschiedene Menschheitserfahrungen fest und ist in keiner Weise süßlich und kitschig. Die Geburt in einem Stall. Wenige Tage später die Flucht der kleinen Familie nach Ägypten. Der Kindermord von Bethlehem. Da steigen unmittelbar heutige Bilder aus den Fernseh-Nachrichten auf.
Die biblische Geschichte ist nicht süßlich. Aber sie erzählt bei allen Bedrohungen und bei aller Gewalt trotzdem von Hoffnung und Freude. Da sind die Tiere, in deren Krippe das Kind liegt. Sie künden doch davon, dass Mensch und Tier friedlich zusammenleben können und wir in der Lage sind, die Schöpfung zu achten und zu bewahren. Und der Himmel steht offen in der Weihnachtsgeschichte. Die Engel verkünden die Frohe Botschaft: „Euch ist heute ein Kind geboren. Friede auf Erden. Fürchtet Euch nicht!“
Diese Botschaft gilt auch uns zu Weihnachten 2024, mitten in einer zerrissenen Welt. Der himmlische Glanz soll die Welt erhellen und erleuchten. Damit wir es nicht vergessen: Friede und Freude, Versöhnung und Ruhe, der Glanz des Himmels, all das will wachsen, groß werden und stark, wie das Kind in der Krippe.
Ein gesegnetes Weihnachtsfest!
Ihr
Hans Christian Brandy
Regionalbischof für den Sprengel Stade
Sonja Domröse, Pressesprecherin Sprengel Stade