Stade, Göttingen (epd). Der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann hält die Sündenlehre von Martin Luther für einen der heute wichtigsten Aspekte der Theologie des Reformators. Die Radikalität dieser Lehre sei unmissverständlich, sagte der Wissenschaftler am Freitagabend beim traditionellen "Michaelis-Empfang" in Stade bei Hamburg. Gleichzeitig warnte er vor einem Moralismus, den sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) angewöhnt habe. Sie trete als "sozial-moralische Weltverbesserungsagentur" auf.
"Alles, was ich tue, von dem ich glaube, dass es Gott nicht gefällt, ist Sünde", erläuterte Kaufmann laut Redemanuskript die luthersche Sündenlehre. Wir seien in Handlungslogiken verstrickt, die verhinderten, dass wir unser alltägliches Dasein mit dem guten Gewissen führen könnten, es sei Gott wohlgefällig.
Als Beispiel führte der Theologie-Professor den Wohlstand an, der auf Ausbeutung und Elend anderer Menschen in anderen Erdteilen basiert. Auch ein Lebensstil, der künftige Generationen bedroht und die ungelöste Aufgabe einer gerechten Verteilung von Lebensmitteln auf der Welt gehören für ihn dazu.
Ein Entrinnen gelinge nicht durch moralische Appelle, mahnte Kaufmann und kritisierte in diesem Zusammenhang die EKD. Sie habe sich angewöhnt, als sozial-moralische Weltverbesserungsagentur aufzutreten. "Doch sich damit ein gutes Gewissen machen zu wollen, unterschreitet das luthersche Sündenniveau."
Das bedeute aber nicht, dass nicht jeder kleine Schritte gehen könne und müsse, um etwas zu ändern. "Von vielem weniger wäre für alle mehr: weniger Fleischkonsum, weniger Energieverbrauch, mehr Bewegung, mehr Gerechtigkeit, mehr Verantwortung für die Folgen des Klimawandels übernehmen."
Das luthersche Menschenbild berge das Potenzial, jenseits von abgestumpfter Weiter-so-Mentalität und hysterischem Moralismus in politischen Fragen Realismus und Vernunft zu fördern. "Nachfolge Jesu Christi in politischer Verantwortung bedeutet Dienst und Solidarität mit all denen, denen es schlechter geht als uns." Nachfolge habe aber auch Grenzen, "denn unser menschlicher Gott hat uns gelehrt, dass wir Menschen sein sollen und nicht Gott".
Zum "Michaelis-Empfang" lädt der Stader Landessuperintendent Hans Christian Brandy regelmäßig Repräsentanten des öffentlichen Lebens zwischen Elbe und Weser ein, um mit Vertretern der Kirche ins Gespräch zu kommen. Das Treffen wird jährlich um den Michaelistag organisiert, der seit dem fünften Jahrhundert am 29. September als Gedenktag des Erzengels Michael gefeiert wird. Seit der Reformation wird dieser Tag in der evangelischen Kirche als "Tag des Erzengels Michael und aller Engel" begangen.
Die evangelische Kirche feiert noch bis Ende Oktober und auch darüber hinaus 500 Jahre Reformation. 1517 hatte Luther (1483-1546) seine 95 Thesen gegen die Missstände der Kirche seiner Zeit veröffentlicht, die er der Überlieferung nach am 31. Oktober an die Tür der Wittenberger Schlosskirche nagelte. Der Thesenanschlag gilt als Ausgangspunkt der weltweiten Reformation, die die Spaltung in evangelische und katholische Kirche zur Folge hatte. Brandy sagte, in der Summe sei das Reformationsjubiläum ein breites, lebendiges Fest gewesen "und ist es noch".
Dieter Sell, epd Landesdienst Niedersachsen/Bremen
„Reformationsjubiläum ist vor Ort ein voller Erfolg“
Stade. Über 250 Gäste begrüßte Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy beim traditionellen Michaelis-Empfang des Sprengels Stade, der diesmal ganz im Zeichen des 500. Reformationsjubiläums stand.
„Es ist einfach ganz unglaublich, was in den Gemeinden, in den Kirchenkreisen, auch in den Kommunen und Städten gelaufen ist“, resümierte der Regionalbischof. Vor Ort sei das Jubiläum ein Erfolg gewesen durch die vielerlei Veranstaltungen. Er gewährte einen kleinen Einblick in die kirchlichen Aktivitäten zwischen Elbe und Weser: 500 Luther-Eichen gepflanzt, Musicals und Theaterstücke (auch auf plattdeutsch), Ausstellungen, Schülerwettbewerbe, Predigtreihen, theologische Vorträge und Konzerte. Es sei ein breites, lebendiges Fest, bei dem „Vieles gelungen war, auch wenn manches kritisch zu bemerken ist.“ So hätten die Veranstaltungen in Wittenberg nicht immer die erhofften Besucherzahlen erreicht. „ Ich glaube ja, so paradox das klingen mag, dass es damit zusammen hängt, dass das Reformationsjubiläum solch ein Erfolg war, und zwar vor Ort. Da konnte man gar nicht mehr so viel nach Wittenberg fahren.“
Mit Blick auf die Geschichte des Sprengels Stade verwies der leitende Theologe darauf, dass hier „jeder Ort seine eigene Reformationsgeschichte“ habe, denn im Gegensatz zu anderen Regionen habe es keine Reformation „von oben durch die Fürsten“ gegeben. So wäre in Stade bereits 1521 evangelisch gepredigt worden, während es in anderen Orten erst ein halbes Jahrhundert später soweit gewesen sei.
„Die ganz große Chance dieses Jahres war und ist für mich, dass wir uns mit den Inhalten der Reformation beschäftigen. Dabei darf es aber nicht darum gehen, sie wie im Museum auszustellen und nur neu abzustauben, vielmehr muss es darum gehen, welche Relevanz und Bedeutung sie für heute haben.“ Zudem sei er sehr dankbar darüber, dass 2017 das Reformationsjubiläum ökumenischen gefeiert werde. „Ich persönlich bin außerordentlich froh vor allem darüber, in einem wie guten ökumenischen Geist das Jubiläum begangen wurde“.
Pastorin Sonja Domröse, Pressesprecherin Sprengel Stade