Predigt über „O du fröhliche“
1. Weihnachtstag 2012, St. Wilhadi, 17.00 Uhr, Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
„Immer sind mehr Menschen von Armut bedroht.“ Oder: „Die Schere von arm und reich öffnet sich weiter“, so die Schlagzeile der Süddeutschen Zeitung am Samstag. Jede Menge Berichte gab es in den letzten Wochen zum Thema Armut. Dass Menschen arm sind, dass es große Wohlstandsgegensätze gibt in unserem Land, das wird bei uns diskutiert, und das ist gut so. Manches wird auch strittig diskutiert, es gibt auch gegensätzliche Gutachten. Man muss definieren, wie man Armut bemisst. Aber unstrittig ist wohl, dass vor allem zu viele Kinder bei uns von Armut bedroht sind und dass Kinder aus armen und bildungsfernen Familien zu wenig Chancen haben, nach oben zu kommen.
Ein sehr weihnachtlicher Einstieg ist das nicht, liebe Gemeinde, ich gestehe es. Aber ein Thema, das zu Weihnachten gehört, zur Geburt des göttlichen Kindes in ausgesprochen armen Verhältnissen. Wie singt Maria in ihrem berühmten Lobgesang zur Geburt Jesu „Die Hungrigen füllt Gott mit Gütern, und lässt die Reichen leer.“
Weihnachten ist ein Protest-Fest gegen Armut und Elend. Darauf stößt man auch, durchaus überraschend, wenn man sich mit einem unserer bekanntesten Weihnachts¬lieder beschäftigt, mit „O du fröhliche“. Das Lied ist ja so etwas wie unsere weihnachtliche Nationalhymne, in jedem Weihnachtsgottesdienst wird es am Schluss im Stehen gesungen. Und hier in St. Wilhadi erklingt dann der Zimbelstern an der Orgel – für manche wird es erst damit richtig Weihnachten.
Das Lied kennen wir alle, sie finden es unter Nr. 44 im Gesangbuch. Seine Geschichte und seinen Dichter kennt man kaum. Ich will davon erzählen.
Johann Daniel Falk heißt der Dichter des Liedes. Er ist 1768 in Danzig geboren. Der Vater ist Perückenmacher, hält nichts von Büchern und nimmt den Zehnjährigen aus der Schule, damit er ihm in der Werkstatt hilft. Nur wohlhabende Sponsoren des begabten Knaben machen eine gute Schulbildung möglich. Er beginnt ein Theologiestudium, das er aber nicht abschließt. Er will lieber Schriftsteller werden. Dazu geht er in die Residenzstadt Weimar, kein schlechter Ort dafür. Dort trifft er Geistesgrößen wie Herder, Schiller und Goethe. Mit Goethe hat Johann Daniel Falk zeitweise engeren Kontakt und schreibt ein Porträt über ihn. Er wirkt als Publizist und Satiriker, mit spitzer Zunge und in wohl mäßiger Qualität, unter anderem verfasst er ein Theaterstück mit dem ansprechenden Titel „Die Prinzessin mit dem Schweinerüssel“. Das bringt ihm Ärger mit dem Minister Goethe.
Ab 1803 bricht über Weimar der Krieg Napoleons herein. Es gibt Elend und Verwüstung. Und hier entdeckt Falk eine ganz neue Bestim-mung. Er wird praktisch tätig als Helfer in Not, kümmert sich um Verwundete und Hungernde auf allen Seiten. Dafür bekommt er vom Herzog einen Orden und den Titel „Legationsrat“, verbunden mit einem guten Gehalt.
In diesen Jahren findet einen neuen Zugang zum christlichen Glauben. Eine Bekehrung. Er erzählt darüber: „Ich war ein Lump mit tausend anderen Lumpen in der deutschen Litteratur, die dachten, wenn sie an ihrem Schreibtisch säßen, so sei der Welt geholfen. … Und so geschah es, dass ich aus einem Satiriker zum Dichter, aus einem Dichter … zum theoretischen Philosophen und Christen, aus einem theoretischen zum praktischen Christen wurde".
Einige Jahre später, 1813, kommt es zu einer privaten Katastrophe. Nach der Völkerschlacht von Leipzig geht eine verheerende Typhus-epidemie durch das Land. Falk und seine Frau haben sechs Kinder, von denen vier an der Epidemie sterben. Eine überlebende Tochter Rosalie Falk berichtet später über dieses Jahr: „Meine Eltern saßen an den Sterbebetten ihrer Lieblinge, und im Nebenzimmer sangen die einquartierten Russen in wehmütigen Klagetönen ihre Volkslieder“.
J.D. Falk erkrankt an Nervenfieber und durchleidet religiöse Verzweiflung: „Ist das der liebende Gott [wörtlich: „die liebende Hauptmonade“] im Mittelpunkt der Welt?“, fragt er. „Kann [sie,] kann Gott so etwas zulassen? Wo ist da ein Sinn zu finden?“ Nein, darin ist kein Sinn zu erkennen, wenn Kinder sterben, damals nicht und heute nicht, darin ist auch kein liebender Gott zu sehen. Es gibt Not und Leid in dieser Welt, die auch für den Glauben schwer auszuhalten ist. Es gibt Verlorenheit, für die wir keine Erklärung haben, in der wir keinen Sinn sehen. Wenn Falk später das Lied O du fröhliche dichtet: Das ist nicht „so dahin“ gesungen. Welt ging verloren – Christ ist geboren: Das hat eine tiefe Bedeutung. Weil Christus geboren ist, weil Christus in mein und dein Leben hineinkommt. Deshalb kann man auch angesichts von Leid und Elend O du fröhliche singen. Das ist nicht oberflächliche Verdrängung. Es ist Ausdruck der Gewissheit, dass Gott uns nahe kommt und unsere verlorene Welt und unser manchmal verlorenes Leben selbst auf sich nimmt.
Johann Daniel Falk überwindet im Glauben diese Krise. Sie verändert ihn, er geht jetzt ganz darin auf, sich als „praktischer Christ“ sozial zu engagieren gegen die verbreitete Not. Er sagt über sich selbst: „Gott hat mir meine Kinder genommen, damit ich mich den Verlorenen und Heimatlosen zuwende.“
Falk öffnet sein eigenes Haus für Waisen- und Straßenkinder. Er gründet mit anderen in Weimar eine „Gesellschaft der Freunde in der Not“, um gegen das Elend der heimatlosen Kinder anzugehen. Schließlich gründet er mit großen finanziellen Opfern ein Waisenhaus, den „Lutherhof“. Bis zu 500 Kinder finden hier Aufnahme in diesem „Rettungshaus“. Sie werden nach dem Dreiklang von Liebe, Bildung und Arbeit betreut. Ein sozialpädagogisches Reformprojekt erster Güte. Mit umfangreicher Korrespondenz wirbt Falk für sein Projekt und sammelt Gelder ein. So wird das Haus auch bekannt und damit zu einem der Gründungsvorbilder für die moderne Diakonie. Johann Hinrich Wichern in Hamburg, der als der Begründer unserer Diakonie gilt, hat sich an dem Vorbild des „Rettungshauses“ in Weimar orientiert.
Man merkt sofort: Wofür Falk sich hier engagiert, das hat nach wie vor seine Aktualität. Er hat wie ein Löwe darum gekämpft, dass kein Kind, kein Jugendlicher verloren gegeben wird. Es kann doch nicht sein, sagt er, dass sich die Gärtner im Park des Herzogs mehr um eine kränkelnde Blume kümmern als wir um junge Menschen, die in Gefahr sind. Wann wird man im Zeitalter, wo so viel von Menschenliebe geschwatzt worden ist, anfangen, dieselbe Barmherzigkeit an Menschen auszuüben, welche die Gärtner in Belvedere schon längst … einem ausgegangenen Rosenstock widerfahren lassen? Oder: Es kann, so wettert Falk, doch nicht sein, dass die Festbeleuchtung zum Geburtstag der Großfürstin 800 Talar kostet, und man zugleich dem Waisenhaus 500 Talar streicht, so dass er jetzt nicht mal mehr das Brennholz für die Kinder bezahlen kann. - Man könnte diese Beispiele problemlos durch aktuelle ersetzen.
Zurück zu Johannes Daniel Falk: Neben Rechnen, Schreiben, Zeichnen und Lesen und der beruflichen Bildung gehört für ihn selbstverständlich auch die religiöse Bildung zum Programm, ein Vertrautwerden mit dem christlichen Glauben. Dafür ist wöchentlich Sonntagsschule im Lutherhof. Hier werden u.a. Lieder gesungen und auswendig gelernt.
Und dafür dichtet Falk im Jahr 1816 unser Lied. Er nennt es „Allerdreifeiertagslied“ und es hat einen überraschenden Text. Die erste Strophe kennen wir:
1. O du fröhliche,
O du selige,
Gnadenbringende Weihnachtszeit!
Welt ging verloren,
Christ ist geboren,
Freue, freue dich, Christenheit!
Die zweite und dritte Strophe aber lauten:
2. O du fröhliche,
O du selige,
Gnadenbringende Osterzeit!
Welt liegt in Banden,
Christ ist erstanden,
Freue, freue dich, Christenheit!
3. O du fröhliche,
O du selige,
Gnadenbringende Pfingstenzeit!
Christ, unser Meister,
Heiligt die Geister,
Freue, freue dich, Christenheit!
Falk hat das Lied also gedichtet, damit die Kinder sich die drei großen Feste gut einprägen können. Keine Frage, solche Lieder brauchen wir heute auch wieder. Wie viele unserer Kinder wissen, was wir Ostern oder gar Pfingsten feiern. Und selbst bei Weihnachten bekommt man manche überraschende Antwort.
Zu einem Lied braucht man eine Melodie. Die Melodie findet Falk bei Johann Gottfried Herder. Der hatte das Lied 1788 in Sizilien entdeckt, es war dort ein Marienlied der Fischer gesungen: „O heiligste, o frömmste, süße Jungfrau Maria“ (O sanctissima, o piissima, dulcis virgo Maria). Herder bringt das Lied mit nach Deutschland und veröffentlicht es in seiner Sammlung „Stimmen der Völker in Liedern“. So wird es die Vorlage zu „O du fröhliche“.
Falks Projekt ist erfolgreich und macht, wie gesagt, Schule. Falk stirbt 1826. An ihn erinnern heute in Weimar ein Denkmal und ein Museum. Einem Freund schreibt er über sein Lebenswerk:
„Könnten Sie uns sehen, Sie würden sich freuen und Gott preisen. Kinder von Räubern und Mördern singen Psalmen und beten. Die Liebe trägt den Sieg davon.“
Und so ist das Lied für die ärmsten Waisenkinder zu einem Lied geworden, das die frohmachende Botschaft von der Liebe Gottes um die Welt trägt, bis in jeden unserer Weihnachtsgottesdienste. Das allerdings nicht in der Fassung von Falk, sondern in der reinen Weihnachtsfassung, die wir kennen. Sie wurde 1829 von Falks Mitarbeiter Johann Heinrich Holzschuher für ein Krippenspiel gedichtet und veröffentlicht:
Was lerne ich aus der Geschichte des Liedes?
Erstens: „O du fröhliche“ ist nicht einfach nur ein heiter, fröhliches Lied. Nein, der Dichter hat tiefe Leidenserfahrungen – denken Sie an den Tod seiner Kinder – gemacht, er kennt die Anfechtungen, dass Gott uns verborgen ist und wir seine Liebe nicht sehen. Das „O du fröhliche“ ist diesen Erfahrungen abgetrotzt. Es kommt damit aus dem Kern der Weihnachtsbotschaft selbst. Gott kommt zur Welt mitten in unsere Dunkelheit, in unsere Zweifel, in unsere Erfahrungen mit Krankheit und Tod. Genau da kommt Gott zur Welt, in meinem und in deinem Leben.
Zweitens: „O du fröhliche“ ist ein Lied aus einem großartigen Projekt der Nächstenliebe, einem Pilotprojekt der Diakonie und der Sozialpädagogik. Damit erinnert es an die soziale Verpflichtung, die zu Weihnachten gehört. Man kann nicht selbst in dem relativen Wohlstand Weihnachten feiern, in dem wir leben, und die Bedürftigen vergessen. Gott kommt hinein in menschliche Armut – das lenkt unseren Blick unabweisbar auf die Armen.
Gewiss: Unser Staat kann nur dann seine sozialen Aufgaben wahrnehmen, wenn genügend Menschen Leistungen erbringen und Steuern zahlen. Und ohne die Kirchensteuern derjenigen, die viel arbeiten und gut verdienen, könnte unsere Kirche ihre Aufgaben nicht wahrnehmen. Dafür will ich ausdrücklich danken.
Nicht um Schelte der Wohlhabenden geht es. Aber um die Sorge, dass die Schere von arm und reich in unserem Land weiter auseinan-dergeht und zu viele abgehängt werden.
Und um die Erinnerung, dass Weihnachten immer ein Fest der gelebten Barmherzigkeit ist. Gut daher, dass es viele diakonische Pro-jekte in der Tradition Falks bei uns gibt, die man unterstützen kann. Gut, dass wir seit Jahren zu Weihnachten für „Brot für die Welt“ sammeln, um die Menschen in den armen Ländern der Welt nicht zu vergessen. Weihnachten ist das große Projekt der Menschenliebe Gottes. In diese Bewegung der Liebe will er uns mit hinein nehmen.
Drittens schließlich: Weihnachten ist Anlass zu einer großen Freude: Die Liebe trägt den Sieg davon. Diese Liebe feiern wir. Sie besingen wir: Freue dich, oh Christenheit.
Es tut uns in der Seele gut zu singen und zu verstehen, dass unsere Welt verloren wäre ohne dieses Kind. Darum: freue dich, oh Christenheit.
Freude dich, dass er gekommen ist, uns zu versöhnen: mit sich, mit uns selbst, mit unserem Nächsten. Wann, wenn nicht in der Gegen-wart eines kleinen Kindes, sollte es gelingen, die eigene Herzenshärtigkeit zu überwinden und neu anzufangen. Darum: freue dich, oh Christenheit.
Lasst uns einstimmen in die Menge der himmlischen Heerscharen. Und so werden wir zum Abschluss des Gottesdienstes wieder „O du fröhliche“ gemeinsam singen - wie wir es gewohnt sind mit Zimbelstern.
Ich wünsche Ihnen eine fröhliche und gnadenbringende Weihnachtszeit.
Amen.
Quellen:
Ulrich Parent / Martin Rössler, O du fröhliche, in: Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Heft 4, Göttingen 2002, S. 26-30.
Hans Steinacker, Ein Lied geht um die Welt: „O du fröhliche, o du selige“, in: Idea-Spektrum 19.12.2012, S. 26-27.
Christian Feldmann, „O du fröhliche“. Vom Lied sizilianischer Schiffer zum Weihnachtsklassiker, epd 17.12.2012
Manfred Thoden, Johannes Daniel Falk – O du fröhliche, Ansprache am 12.12.2012.
Landesbischof Friedrich Weber, Predigt zu O, du fröhliche am 13.1.2008 im Braunschweiger Dom.