Beziehungskisten
Innig umarmt die junge Frau den Mann, der den Bahnsteig entlang gelaufen kommt. Anrührend ist das. Ich mag es, zu Weihnachten am Bahnhof zu sein. Um meine Lieben in Empfang zu nehmen. Aber auch, weil es schön ist zu
sehen, wie Menschen sich begrüßen. Hier umarmt sich ein Paar innig. Dort begrüßt ein Vater den großen Sohn liebevoll, aber auch ein wenig unsicher. Andere geben sich höflich die Hand. Ein Paar tauscht einen routinierten Kuss
aus und geht dann sachlich zum Auto; sie sind sich ihrer Zusammen-gehörigkeit, so wirkt es, sicher, und gehen gemeinsam ihre Aufgaben an.
Zu Weihnachten empfinden wir besonders: Das Wichtigste sind die Beziehungen, in denen wir leben. Die Menschen, die zu uns gehören, Personen, die wir lieben, mit denen uns eine lange Geschichte verbindet. Die Qualität unseres Lebens besteht nicht primär in dem, was wir besitzen, sondern in den Beziehungen, in denen wir leben. Die gelingende Begegnung von Person zu Person, das ist das, was den Menschen zum Menschen macht.
Wenn es gut geht, sind alle Weihnachtsgeschenke Ausdruck davon. Sie machen Liebe, Verbundenheit und Dank sichtbar. Das ist ihr eigentlicher Wert, und der ist unabhängig vom Ladenpreis. Geschenke sind Beziehungs‐Kisten.
Auch Einsamkeit spürt man zu Weihnachten besonders. Wo jemand einen Menschen durch den Tod verloren hat, wo Familien zerbrochen sind, wo man niemanden hat, den man vom Zug abholen kann – das empfinden viele zu Weihnachten als doppelt schmerzhaft. Umso wichtiger ist es, dass wir gerade zu Weihnachten aufeinander acht haben und besonders nach denen schauen, die allein sind und Zuwendung brauchen.
Ebenso sollten wir einander nicht überfordern durch überspannte Erwartungen. Nur kein Harmoniestress!
Menschen haben es zu Weihnachten nicht leichter miteinander als zu anderen Zeiten auch. Warum sollte es mit pubertierenden Kindern gerade zum Fest keinen Stress geben? Warum sollten sich in der Patchworkfamilie mit
Elternteilen hier und dort zu Weihnachten alle Spannungen in Harmonie auflösen? Zum erwachsenen Umgang mit Beziehungen gehört ein realistischer Umgang mit dem anderen und mit sich selbst. Konflikte inklusive.
Zu Weihnachten feiern wir, dass Gott uns als Person begegnet. Der Gott der Bibel ist nicht (jedenfalls nicht zuerst) unfassbare Macht, nicht unnahbare Energie. Er ist Person, die uns begegnet, die Beziehung mit uns will. Er ist ein
Gegenüber, dem wir uns anvertrauen können, mit dem wir im Gebet reden können. Eine Person mit einer Geschichte, mit einer Biographie. Zu Weihnachten erzählen wir davon. Zu Weihnachten wird Gott Mensch wie wir.
Wir sehen sein Gesicht in dem Kind in der Krippe, in dem Mann aus Nazareth. Das Kind in der Krippe ist Gottes liebevolle Beziehungskiste mit uns.
Gottes Liebe will uns stärken und trösten, mitten in den gelingenden wie in den konflikthaften Beziehungen, in Gemeinschaft wie in Einsamkeit. Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, gute Begegnungen und gelingende Gemeinschaft zu Weihnachten. Und ich wünsche Ihnen lebensstärkende Begegnungen mit Gott.
Landessuperintendent
Dr. Hans Christian Brandy, Stade