Predigt an Heiligabend

Predigt Heiligabend 2012, St. Wilhadi Stade, Landessuperintendent Dr. Hans Christian Brandy

Liebe Gemeinde,
dunkel war es. Nacht. Richtig finster, da draußen auf dem Felde. Da, wo die Hirten ihre Schafe hüteten. Es waren Hirten in derselben Ge-gend auf dem Felde, die hüteten des Nachts ihre Herde. Die Weihnachtsgeschichte ist eine Nachtgeschichte. Ein paar Fackeln vielleicht in der Weite der Dunkelheit. Ein Lagerfeuer. Aber keine Straßenlaternen. Und wie ich zufällig genau weiß, gab es auch noch keine Weihnachtsbeleuchtung. Keinen beleuchteten Weihnachtsbaum hatten sie sich aufgestellt. Ganz zu schweigen von dem Wetteifern um die hellste Weihnachtsbeleuchtung, das man in manchen Straßen ansieht. Da sind ja bisweilen Haus und Vorgarten so ausgeleuchtet, dass man Sorge hat, dass die Stromversorgung zusammenbricht.
Nein dunkel war es. Und wo es richtig dunkel ist, da kann man die Sterne leuchten sehen. Wie muss da der Stern gestrahlt haben, der über Bethlehem zu sehen war! Wie muss Gottes Licht geleuchtet haben in dieser Dunkelheit. Wie muss dann erst das Licht der Engel gewesen sein: „Die Klarheit des Herrn leuchtete um sie.“
Gott wählt die Nacht, um zur Welt zu kommen. Die Weihnachtsgeschichte ist eine Nachtgeschichte. Wohl zu der halben Nacht erscheinen die Engel den Hirten auf dem Feld. Vielleicht ist deshalb für uns das Wichtigste zu Weihnachten dieser Heilige Abend, die Heilige Nacht. Weil das unserer Seele nahe kommt in dieser dunklen Jahreszeit, direkt beim kürzesten Tag es Jahres: Das Licht scheint in die Dunkelheit.
Wie haben wir eben gesungen: Das ewig Licht geht da hinein, gibt der Welt ein‘ hellen Schein. Es scheint wohl mitten in der Nacht, und uns des Lichtes Kinder macht.
Kinder des Lichtes – mitten in der Nacht. Das ist die Botschaft von Weihnachten, die das Christuskind bringt. Gott kommt zur Welt – in der Nacht, in der Dunkelheit. Gott kommt hinein in unsere Nächte. Deshalb ist dieser Abend,
Die Nacht kann tief und schwarz sein, bedrohlich. In der Nacht werden die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Orientierung und Halt oft besonders bedrängend. Nachts können Probleme groß und scheinbar unüberwindlich werden. Sorgen türmen sich zu bedrohlichen Szenarien auf, wir sind Gedanken und Gefühlen schutzlos ausgeliefert. Unerträglich kann die Nacht sein, vor Schmerzen, Sorgen, Schlaflosigkeit.
In der Nacht kommt Gott zur Welt. Auch in meine und deine leidvollen Nächte. Das ewig‘ Licht geht da hinein. Es scheint wohl mitten in der Nacht, und uns des Lichtes Kinder macht.
Aber die Nacht kann auch schön sein. Wie arm wäre das Leben ohne Nächte. Die Nacht ist still, das Telefon schweigt. Die Dunkelheit bietet einen Schutzraum der Diskretion. Wir sind dem kontrollierenden Blick der anderen entzogen, dem Blick, der alles immer gleich bewertet. In der Nacht ist Zeit, ohne Termine, beinahe ohne Ende. Die Nacht ist die Zeit des Festes, der Liebe und der Leidenschaft. Sie bietet einen geschützten Raum für Begegnung, für lange Gespräche, manchmal bis zum Morgen.
Gott kommt zur Welt, auch in den guten Nächten, die das Leben reich machen. Gott ist da, wo des Lebens Fülle ist.
Und: Der Abend, die Nacht sind die Zeit des Loslassens. Die Zwänge des Tages kommen zu einem Ende. Ich darf mich fallen lassen. Jemand hat formuliert: „Jeder Abend lädt ein, uns in einer Kunst zu üben, die uns menschlich macht, in der Kunst des Lassens. Jeder Abend lädt uns ein, dass es durchaus auch ohne uns geht, ja, dass es ohne uns vielleicht sogar besser geht.... Eins aber ist klar: Zu solcher Meisterschaft brauche ich einen Gott, dem ich mein Werk getrost überlassen kann, der gerade in tiefster Nacht, wenn niemand ihn mehr stören kann, seine Wunder tut.“ (R. Deichgräber)
Wie wichtig ist das für uns in unserer hochbeschleunigten Welt, in der wir ständig unter Dampf stehen und auf Empfang sind. Wie oft tun wir mehreres gleichzeitig: Telefonieren und im Internet surfen. Fernsehen und Essen. In einer Besprechung sein und Emails lesen. Immer mehr „Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit“, so nennen Soziologen das. Anstrengend ist das. Wie wichtig ist da der Abend, die Nacht, das Loslassen. Der Schlaf, in dem wir gar nichts mehr tun und unsere gerade so Energie zuströmt. Wie wichtig ist die Entschleunigung.
Und wie gut kann da dieser Abend sein. Er ist nicht nur ein Abend, eine Unterbrechung wie an 364 anderen Abenden. An diesem Abend unterbricht Gott selbst den Lauf der Dinge. Gott selbst will in mein und dein Leben kommen und erinnert uns daran: Dein Leben ist Ge-schenk. Du musst ihm nicht ständig hinterherlaufen und deine Lebensberechtigung nicht durch Leistung verdienen. Gönne Dich Dir selbst. Möge das Weihnachtsfest eine wohltuende, eine heilsame Unterbrechung sein, mit Zeit zum Durchatmen und Loslassen. Eine göttliche Unterbrechung will es sein.
Der Weihnachtsabend ist der Abend aller Abende: Du darfst Dich loslassen, mit allen Lasten, allen Anstrengungen, mit allem auch, was nicht fertig geworden sein mag. Mit allem, was Du erwartest oder auch befürchtest an diesen Tagen. Denn diese Weihnachtstage, sie verbinden ja viele hohe Erwartungen, gelungene Gemeinschaft, und auch manche Ernüchterung, manchen Harmoniestress. Auch da kann es gut sein, loszulassen, auch die zu hohen Erwartungen.
Gott ist besonders in der Nacht am Werk. Viele biblische Geschichten spielen in der Nacht. Gott begegnet den Menschen gern in der Nacht.
Ganz am Anfang, so erzählt das erste Kapitel der Bibel von der Schöpfung, da herrschte reine Finsternis. Und dann sprach Gott als sein erstes Wort: Es werde Licht! Und es ward Licht. In der Nacht beginnt Gottes Geschichte mit seiner Welt.
Jesus ist Menschen in der Nacht begegnet. Da war etwa Nikodemus, ein jüdischer Gelehrter, der eines Nachts zu Jesus kam und mit ihm ein tiefes Gespräch über das Leben führte. Solche Gespräche sind nachts leichter möglich. Jesus sagte dem Nikodemus in diesem Gespräch, was auch die Weihnachtsbotschaft in einem Satz zusammenfasst: So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hergab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.
Gott ist besonders in der Nacht am Werk. In einer dieser Nächte, während alle Welt schlief oder zu schlafen versuchte, ist Gott selbst Mensch geworden. Er hat die Welt, seine Schöpfung und das, was wir daraus machen, auch dein Leben und mein Leben, aufgenommen, auf sich genommen. Von Anfang an ist er deinen und meinen Weg mitgegangen. Vom Mutterleib an.
Weihnachten – das steht für: Gott bemächtigt sich der Dunkelheit menschlicher Existenz und erhellt sie durch seine Gegenwart.
Gott will geboren werden in deine guten und in deine schweren Nachterfahrungen. In deinen Schlaf, in dem Du Dich loslassen kannst, und in deine Schlaflosigkeit.
Gottes Licht will zur Welt kommen mitten in unseren Dunkelheiten. Die intensivste weihnachtliche Erfahrung, die ich in den letzten Wochen gemacht habe, hatte ich in einem Krankenhaus. Ich habe jemanden besucht, der mit einer bösen Krankheit dort behandelt wurde. Die Person erzählte mir von der Krankheit, von ihrem gefährlichen Ernst, der unsicheren Perspektive. Auch von der Angst, die die Krankheit auslöst. Da macht jemand wirklich Nachterfahrungen, erlebt Dunkelheit. Zufällig saß ich so, dass genau hinter dem Kopf meines Gegenübers eine Schrifttafel zu lesen war. Dort hing das bekannte Wort von Dietrich Bonhoeffer: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen man. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen. Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Gott ist mit uns am Abend und Morgen. Das wissen wir, weil Gott zwischen Abend und Morgen uns nahe gekommen ist, wohl zu der hal-ben Nacht.
Jede Nacht bringt den Anbruch eines neuen Tages. Deshalb ist die Nacht nie nur ein Zeitansage, sondern auch eine Sinnanzeige. Die Mitte der Nacht ist der Anfang eines neuen Tages. Das ist die Verheißung jeder Nacht. Und für keine Nacht gilt das wie für diese Nacht. Gott beginnt eine neue Zukunft mit seiner Welt, mit seinen Menschen. Dafür steht das Kind. Das Leben hat Zukunft. Kein Dunkel kann es hindern, keine Krankheit, selbst der Tod nicht. Gottes Zukunft reicht weiter. Gott entzündet ein Licht, das durch kein Dunkel mehr vertrieben wird. Das ewig‘ Licht geht da hinein. Es scheint wohl mitten in der Nacht, und uns des Lichtes Kinder macht.
Das feiern wir an diesem Abend, in dieser Nacht. Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Heiligen Abend, eine gesegnete Heilige Nacht.
Amen.


 

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