Predigt in der Osternacht 2022

Nachricht Stade, 18. April 2022

Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy - St. Wilhadi-Kirche, Stade

Der Friede des Herrn sei mit euch allen. Amen.

Osternacht. Die Nacht, in der wir Jesu Weg ins Leben feiern, ins Licht, liebe Gemeinde. Aber wir feiern es in er Nacht, noch im Dunkel.

Das passt für mich in diesem Jahr besonders zu meinen Gefühlen und Gedanken zu Ostern. Der Weg zur Osterhoffnung durch das Dunkel hindurch. Dieser Weg durchs Dunkel wurde in der Christenheit immer mit dem Karsamstag verbunden. Unser Glaubensbekenntnis erzählt den Weg Jesu so nach: „gekreuzigt, gestorben und begraben“ - das ist der Karfreitag. „Am dritten Tage auferstanden von den Toten“ - das ist Ostern. Dazwischen aber steht: „Hinabgestiegen in das Reich des Todes“ - das ist der Karsamstag. Der Weg vom Karfreitag zum Licht des Ostertages führt durch das Reich des Todes.

Früher wurde wörtlicher übersetzt mit „niedergefahren zur Hölle“. Das Mittelalter hat das in schillerndsten Farben illustriert, den Weg Jesu in die Hölle, mit gräußlichen Bildern von der Unterwelt, mit elenden Gestalten, die sehnsuchtsvoll auf Christus schauen, der als der Gekreuzigte und doch machtvoll in dieses Reich des Todes hineintritt. Oft steigen die Geretteten aus dem Maul eines scheußlichen Untiers.

Es gibt eine ganz alte, ziemlich grobe Geschichte dazu, die mit derbem Humor erzählt: Der Teufel ist ein verfressenes Ungeheuer. Er sitzt in der Hölle und verschlingt die armen Sünder, die dort landen. Seine Gier ist grenzenlos. Doch am Karsamstag geschieht etwas Außergewöhnliches: Der gekreuzigte Christus kommt zusammen mit anderen Sündern in die Hölle. Der Teufel ist so verfressen, dass er in seiner Gier gar nicht bemerkt, wen er da verschlingt. Kaum aber hat er Christus verschlungen, bekommt der Teufel Magenprobleme. Christus, der Sohn Gottes, ist für den Teufel absolut unbekömmlich. Er bekommt einen starken Brechreiz und muss sich übergeben. Und zwar so stark und so lange, bis sein Magen ganz entleert ist. Der Teufel spuckt nicht nur Christus aus, sondern auch alle anderen Sünder, die in der Hölle saßen. Christus hat alle gerettet.

Natürlich: Solche alten, mythologischen Vorstellungen sind von uns weit weg. So wird sich das heute keiner mehr vorstellen. Deshalb wurde das Glaubensbekenntnis evangelisch wie katholisch im Jahr 1970 auch geändert, aus „niedergefahren zur Hölle“ wurde „hinabgestiegen in das Reich des Todes.“ Aber der Gedanke dahinter ist für mich sehr tröstlich: Zwischen Kreuz und Auferstehung geht Christus bis in die tiefste Tiefe. Bis in die fernste Gottverlassenheit. Es gibt keinen Ort mehr, an dem Jesus Christus nicht ist.

Der Gedanke ist für mich in diesem Jahr besonders tröstlich, einem Jahr, in dem wir Ostern unter manchen Anfechtungen feiern. Unsere Sehnsucht nach einem normalen Leben bleibt einstweilen unerfüllt. Die Corona-Zeit ist noch längst nicht zu Ende und hat viele physisch und seelisch sehr erschöpft. Jetzt leben wir in einer Zeit des Krieges mitten in Europa, eines Angriffs- und Vernichtungskrieges mit unfassbaren Grausamkeiten und bodenlosen Lügen. Dazu nun noch eine plötzliche Inflation, die vor allem diejenigen trifft, die sich über die höheren Preise nicht nur ärgern – so wie ich es tue –, sondern die schlicht nicht wissen, wie sie jetzt noch über den Monat kommen sollen mit den Kindern.

Dieses Zeitgeschehen mitten im 21. Jahrhundert hat eine seltsam mittelalterliche Anmutung: Seuche – Krieg – Teuerung. Diese Erfahrung kannten Menschen früherer Generationen gut: Seuche – Krieg – Teuerung. Da hinein haben sie ihre österliche Hoffnung eingezeichnet. So wie wir es heute tun.

Dabei gehen an diesem Osterfest viele Gedanken besonders zu den Menschen, die unter dem unfassbaren Krieg in der Ukraine leiden. Zivilisten, die von Raketen in ihren Wohnungen getötet werden. Die, die gezielt erschossen werden von abziehenden russischen Soldaten. Vergewaltigte Frauen. Die Menge der Menschen, die bereit zur Flucht auf einen Bahnhof versammelt ist und von einer Rakete getötet wird. Die Kinder, die in U-Bahnschächten sitzen aus Angst vor Bomben. Die Alten, die weinend vor den Trümmern ihres Hauses stehen, ihres Lebenswerkes. Die Abermillionen, die jetzt schon auf der Flucht sind, voller Unsicherheit und Angst. Wer mag da noch sagen: Die Hölle gibt es nicht? Sehen wir sie nicht in einer ganz diesseitigen Weise in Mariupol?

Die Osternacht lässt uns in einem anderen Licht auf diese Abgründe schauen. Wir feiern den Sieg dessen, der selbst die Hölle durchgemacht hat, als er schrie „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Wenn die Hölle dort ist, wo Menschen in ihrer Gottverlassenheit verzweifeln, dann ist sie auch an all den Schreckensorten, an denen Menschen in diesen Tagen leiden. Und wir feiern dann, dass der Sieger, der Auferstandene diese Orte nicht ausgespart hat. Ja, gerade dort ist er. Wir feiern den Gott des Lebens, der auch in unseren Höllen bei uns ist. Jesus Christus ist auferstanden und hat nicht nur den Tod, sondern auch die Hölle entmachtet. Deshalb ist kein Ort mehr ohne Hoffnung. Deshalb bin ich auch in meinen ganz persönlichen Abgründen nicht allein. Deshalb bin ich auch in meinen Ängsten, in den Schattenseiten meiner Existenz nicht von Gott verlassen.

So schenkt Ostern eine Hoffnung, die allen Höllenerfahrungen nicht das letzte Wort lässt. Diese Hoffnung kann uns in Bewegung setzen, Höllenqualen von Mitmenschen zu lindern, wo immer wir können – im Moment besonders in der Hilfe für Menschen in der Ukraine und für Geflüchtete bei uns. Diese Hoffnung kann uns in Bewegung setzen, auch politisch dafür zu arbeiten, dass es auf dieser Welt weniger Höllenorte und viel mehr Friedensorte gibt. Österliche Menschen sind Menschen des Friedens! Und diese Hoffnung ermutigt uns zu beten für alle, die unter Krieg und Bedrückung leiden. Ich zitiere in diesen Wochen immer wieder ein Wort von Dietrich Bonhoeffer, das er 1944 geschrieben hat: Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Das gilt gerade im Licht von Ostern: Beten und Tun des Gerechten.

Ostern schenkt eine Hoffnung, die allen Höllenerfahrungen nicht das letzte Wort lässt. In dieser Hoffnung feiern auch in der Ukraine und auch in Russland die orthodoxen Christen Ostern – heute in einer Woche. Gerade für die orthodoxen Christen ist das die zentrale Aussage ihres Osterfestes: Christus als Sieger über Tod und Hölle. Die typische orthodoxe Auferstehungs-Ikone stellt nicht die Auferstehung selbst dar, sondern Christus in der Unterwelt, bei den Toten. Auf dieser Ikone ist Christus weiß gekleidet – schon ganz der Auferstandene. Er durchbricht die Pforten der Hölle, er ergreift die Hände der Menschen, die dort sind, Adam und Eva als Urbilder der Menschen, und zieht sie mit sich. Wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden, so hat es schon Paulus geschrieben (1. Kor 15,22).

Und bei Johannes sagt Christus: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ (Joh 14,19) Das sehen wir auf diesem Bild. Ein kräftiges Gegenbild gegen die Bilder des Todes, die wir in diesen Tagen im Überfluss sehen. Solche Gegenbilder brauchen wir. Der Auferstandene in allen menschlichen Höllenerfahrungen. Der Auferstandene, der uns herauszieht aus allen Höllenerfahrungen und eine ganze neue Hoffnung und Zuversicht gibt. Der Auferstandene, der dich und mich bei der Hand nimmt. Das ist für mich die Botschaft dieser Osternacht.

Amen.

Wesentliche Anregungen für diese Predigt verdanke ich Matthias Hülsmann: Die Höllenfahrt Christi, in: Matthias Hülsmann, Theologisches Aufbauwissen, Band 2, RPI Loccum 2021, S. 41-44.