Hannover/Göttingen (epd). Die Reformation der Kirche im 16. Jahrhundert durch Martin Luther (1483-1546) und seine Zeitgenossen hat Europa und die Welt tiefgreifend verändert. Das abendländische Christentum zerfiel in dieser Epoche in zwei Teile: den eher protestantischen Norden und den eher katholischen Süden. Aus Sicht des Göttinger Kirchenhistorikers Professor Thomas Kaufmann setzte das Reformationszeitalter Impulse frei, die bis heute nachwirken.
* Gewissensfreiheit: Ein Staat darf nicht ins persönliche Gewissen seiner Bürger eingreifen. Dieser heute selbstverständliche Gedanke hat seit der Reformationszeit eine erhebliche Schubkraft entfaltet. Urbild ist der Auftritt Martin Luthers 1521 beim Reichstag in Worms, als er sich weigerte, vor dem Kaiser seine kritischen Schriften zu widerrufen. Der Gedanke der Gewissensfreiheit kam durch Luther aus der Gelehrtenwelt in die breite Bevölkerung.
* Pluralität: Bis zur Reformation bestand im westlichen und mittleren Europa eine einheitliche Kultur, die geprägt war vom Recht der römisch-katholischen Kirche und dem Papst als Führungsgestalt. Doch ab dem 16. Jahrhundert mischte sich mit der neuen evangelischen Kirche eine zweite Form des Christentums in Glaubens- und Wahrheitsfragen ein. Später traten weitere religiöse und weltanschauliche Akteure hinzu. Die Vielfalt von Weltanschauungen und Lebensformen in Europa nahm durch die Reformation ihren Anfang.
* Schule: Aus Sicht der Reformatoren mussten Christen lesen können, denn die entscheidende Quelle des Glaubens war die Bibel. Dies löste in Deutschland einen breiten Alphabetisierungsschub aus. Reformatoren wie Philipp Melanchthon (1497-1560) setzten sich für die Gründung von Schulen ein. Auch Mädchen gingen jetzt verstärkt zur Schule. Gelehrt wurde in der Volkssprache, nicht mehr nur auf Latein. Katechismen und Lieder spornten zum Lesen und Lernen an. So hat die Reformation laut Kaufmann das eigenständige Denken und die Urteilsbildung der Menschen gefördert.
* Sprache: Sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Ländern hat die Reformation die Volkssprachen enorm aufgewertet. Gepredigt wurde nun vermehrt auf Deutsch, Französisch, Niederländisch oder Ungarisch. Großen Einfluss übte Luthers deutsche Bibelübersetzung aus, sie prägte ganze Sprichwörter. Versuche, die verschiedenen Varianten der deutschen Sprache zu vereinheitlichen, gab es schon vor Luther. Auch war die Bibel bereits in vorreformatorischer Zeit ins Deutsche übersetzt worden. Luther hat die Entwicklung hin zu einer deutschen Hochsprache jedoch massiv verstärkt.
* Publizistik: Die reformatorische Bewegung hat ihre Botschaft mit den Mitteln der Publizistik verbreitet und eine Flut von Flugschriften herausgebracht - und ihre Gegner zogen nach. Dadurch kam der Buchdruck in Schwung, die Druckerpresse stand nicht mehr still. Der Historiker Kaufmann sieht in den Flugschriften jener Zeit die Vorläufer von Zeitungen. Luther selbst galt als publizistisches Genie, seine Schriften fanden reißenden Absatz. Er setzte sich auch für Texte ein, die er ablehnte. So wurde 1543 in Basel mit seiner Unterstützung ein lateinischer Koran gedruckt - allerdings mit dem Hintergedanken, auf diese Weise die Unwahrheit dieser Schrift zu zeigen.
* Nationalbewusstsein: Luther knüpft an nationale Tendenzen seiner Zeit an und macht sie sich zu eigen. Er stilisiert sich als "Prophet der Deutschen" und appelliert an den deutschen Adel. Auf diese Weise trägt er dazu bei, dass sich die Menschen in den deutschen Ländern zunehmend als zusammengehörig empfinden. Laut Kaufmann war das frühmoderne deutsche Nationalbewusstsein ein Mittel, um sich gegen den Einfluss aus Rom abzugrenzen.
* Wirtschaft: Die Reformation schaffte eine Fülle von althergebrachten Feiertagen ab. In einer Stadt wie Augsburg arbeiteten die Evangelischen etwa 50 Tage im Jahr mehr als die Katholiken. Das ließ protestantische Unternehmen wirtschaftlich prosperieren. Allerdings verteufelte Luther das Zinsnehmen, den "Wucher". Katholische Theologen äußerten sich dagegen positiver über Zinsen. Dass der Kapitalismus aus dem Geist des Protestantismus entstanden sei, lässt sich laut Kaufmann aber nicht erweisen.
Michael Grau (epd)