Sie kommen aus derselben Welt:

Nachricht Buxtehude, 17. Juni 2016

Ulrich Tilgner referierte auf dem Jahresempfang des Kirchenkreises Buxtehude

„Frieden und Wohlstand hier – Elend und Krieg dort. Das sind zwei Seiten einer Medaille, denn es gibt nur eine Welt.“

Flüchtlingsbewegungen und ihre Ursachen, globale Zusammenhänge und eine seit Jahrhunderten verfehlte Politik des Westens: Schwer Verdauliches hatte der Journalist Ulrich Tilgner im Gepäck, als er am 13. Juni beim Jahresempfang des Ev.-luth. Kirchenkreises Buxtehude in der St. Petri-Kirche seinen Vortrag hielt unter Bezug auf das aktuelle Motto des Reformationsjubiläums: „Reformation und die Eine Welt“.

Seinen Finger legte der frühere ZDF-Korrespondent und Träger des Hanns-Joachim-Friedrich-Preises in die Wunden, die in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten eine Welle der Gewalt in Gang gesetzt und eine große Zahl von Flüchtlingen nach sich gezogen haben. Aus seiner Sicht gehören die westlichen militärischen Interventionen gegen die Staaten des Islam in der Golfregion, in Afghanistan und Syrien zu den Hauptursachen für die Destabilisierung der ganzen Region. Eine weitere Hauptverantwortung trage Saudi Arabien. „Die westlichen Interventionen haben das Elend vergrößert und keinen Fortschritt gebracht.“ Die internationale Gemeinschaft sei „unfähig zum Frieden schaffen“.

Erschreckende Zahlen, die zum Teil nicht über die gängigen Medien verbreitet werden, brachte er mit:

Zwischen 250.000 und 500.000 Tote gab es allein in Syrien in den vergangenen fünf Jahren. 2014 waren  von 23 Millionen Syrern 7,6 Mio. heimatvertrieben im eigenen Land sowie 3,88 Mio. auf der Flucht außer Landes, mit steigender Tendenz.

15.000 Luftangriffe wurden seit 2014 gegen den „Islamischen Staat“ geflogen mit 44.000 Bombardements. Deren Angriffe haben dadurch aber nicht abgenommen.

Zusammengerechnet lägen die Kosten der Kriege, die westliche Mächte in Afghanistan, Irak und Pakistan geführt hätten, bei 8000 Milliarden (8 Billionen) US-Dollar. Wäre statt dessen nur ein Teil dieser Summe in die Beseitigung der Fluchtursachen geflossen, stünden wir jetzt nicht vor der derzeitigen Flüchtlingsproblematik.

Dass es selbst nach den Terroranschlägen in Paris und Brüssel für Europäer ebenso wahrscheinlich ist, von einem Blitzschlag tödlich getroffen zu werden wie durch einen Terrorangriff zu sterben, hat angesichts der immensen Zahlen an Toten, Verletzten und Vertriebenen im Nahen und Mittleren Osten nichts Tröstliches.

Die Flüchtlingspolitik der EU und Deutschlands, die ihre Schutzwälle nicht nur an die Außengrenzen der EU verlegt haben, sondern sogar afrikanische Staaten dafür bezahlten, die Menschen schon an den dortigen Staatsgrenzen zurück zu halten, zeige den westlichen Zynismus. „Frontex“ bezeichnete Tilgner als „militärischen Einsatz zur Abschreckung von Flüchtlingen“. Dass es dabei um Einsätze gegen Schlepper gehe, sei vorgeschoben. 

Nach der Schließung der Balkanroute kommen die Menschen trotzdem wieder verstärkt über das Mittelmeer nach Italien. Tausende sind seit Anfang des Jahres im Mittelmeer ertrunken.

Die aktuelle Stagnation der Flüchtlingszahlen in Mitteleuropa sei nur von kurzer Dauer. Eine Flüchtlingswelle von jungen, teilweise gebildeten Afrikanern ohne Perspektive in ihren eigenen Ländern sei in den Startlöchern für eine Migration in Richtung Europa.

Auf die Rolle der Kirchen ging Tilgner nur kurz ein. Papst Franziskus habe eine humanitäre Geste gezeigt, als er zwölf muslimische Menschen von der Insel Lesbos in seinem Flugzeug mitnahm nach Rom. Vergleichbare Auftritte anderer Kirchen in den Krisenregionen vermisse er. Der Anteil der Christen in den Staaten des Orient, der seit Jahrhunderten stabil bei ca. zehn Prozent der Bevölkerung lag, halbiert sich durch die zunehmenden Repressalien seit den Golfkriegen alle fünf  bis sechs Jahre. Damit verschwindet eine ganze Kultur. Diese Entwicklung fand zuerst in Saudi Arabien, dann im Irak und in Syrien statt, und zunehmend auch in Jordanien.

Einzig die Waffenindustrie profitiere von der fehlgeleiteten Politik. Auf allen Seiten werde mit Waffen vielerlei Herkunft gekämpft. Er brandmarkte die Verquickung westlicher Staaten in Waffengeschäfte mit Staaten wie dem Iran und Saudi Arabien.

Einen versöhnlichen Schluss hatte der Vortrag Tilgners nicht. Nach seiner messerscharfen Analyse der Weltlage überließ er die tröstlichen Töne dem Kammerchor des Kirchenkreises, der mit „Verleih uns Frieden“ von Heinrich Schütz und dem Abendlied von Josef Gabriel Rheinberger unter der Leitung von Kreiskantorin Sybille Groß den offiziellen Teil des Empfangs beschloss.

Superintendent Dr. Martin Krarup hatte zu Beginn des Abends Rückblick auf die Entwicklungen des Kirchenkreises gehalten und lud im Anschluss an Tilgners Vortrag zu einem Imbiss und zu Gesprächen in das Nordschiff der Buxtehuder Backsteinbasilika ein.

15.06.2016                         

Christa Haar-Rathjen, Pastorin