Predigten und Andachten von Dr. Hans Christian Brandy

"Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe" 1. Korinther 16,14

Die Forscherin Margaret Mead wurde einmal gefragt: Was sind die ersten Anzeichen der menschlichen Zivilisation? Was macht uns Menschen aus? Ihre überraschende Antwort: „Ein geheilter Oberschenkelknochen“. Die Begründung: Wenn ein Tier sich in der Natur etwas breche, wären seine Überlebenschancen gleich null. Es würde verhungern, verdursten oder gefressen werden. Der Fund eines geheilten Oberschenkels sei ein Indiz: Jemand habe sich Zeit genommen, bei dem Verletzten zu bleiben, ihn zu versorgen und zu pflegen. Meads Thesen sind nicht ganz unumstritten. Aber ich finde diese Deutung großartig: Fürsorge, Barmherzigkeit und Liebe sind Zeichen für das, was menschliche Zivilisation ausmacht.

„Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“ So schreibt Paulus im 1. Brief an die Gemeinde in Korinth. Paulus war vom Verfolger der christlichen Gemeinden zum Verkündiger der Frohen Botschaft von Jesus Christus geworden. Er gründet etliche Gemeinden im Mittelmeerraum. Aber er macht auch schnell die Erfahrung: In den Gemeinden gibt es Konflikte und Lieblosigkeit. So betont Paulus: Wer aus Gottes bedingungsloser Liebe lebt, die uns in Jesus Christus begegnet, dessen Leben wird auch praktisch von dieser Liebe bestimmt sein.

Das schreibt er auch der Gemeinde in Korinth. Dabei geht es ihm nicht um große Heldentaten, sondern um das Alltägliche. In seinem Brief spielt er das an praktischen Fragen durch, etwa an Streitigkeiten von Gruppierungen in der Gemeinde, an Gerichtsverfahren unter Christen, an verschiedenen religiös-kultischen Vorstellungen. Es darf nie einfach darum gehen, Recht zu behalten, sondern alles Tun von der Liebe bestimmt sein zu lassen. Vor allem: Wie wird Rücksicht auf die Ärmeren genommen? Damit hakte es in Korinth: Wenn sie zusammen Abendmahl feiern, sitzen da einige gesättigt, andere aber mit knurrendem Magen. Das geht gar nicht, schreibt Paulus, das verletzt die im Glauben an Christus vorgegebene Gemeinschaft. Und ums liebe Geld geht es auch: Paulus möchte eine ordentliche Sammlung für die christliche Gemeinde in Jerusalem zusammenbringen. Auch Spendenbereitschaft ist ein Ausdruck der Liebe.

Manche Themen sind erstaunlich aktuell. Viele wären heute in unserer komplexen Gesellschaft hinzuzufügen. Ständig steht man vor neuen Herausforderungen und der Frage, was zu tun ist. Wer kann da schon immer wissen, was richtig ist? „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“

Der Kirchenvater Augustin hat es später pointiert formuliert: „Liebe – und tu, was du willst.“ Wenn du eine Entscheidung aus Liebe heraus triffst, dann wird sie richtig sein. Was für ein weitherziger Kompass für Entscheidungen in unübersichtlicher Situation! Er verbindet Freiheit mit Verantwortung. Engstirniger Moralismus, den es leider gab und gibt, entspricht gerade nicht dem christlichen Glauben. „Man darf alles“, schreibt schon Paulus wörtlich (1. Korinther 10,23). Aber nicht alles tut gut, „man darf alles“ immer nur in Verantwortung für den und die andere.

„Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe.“ Nicht die Ich-Bezogenheit steht im Mittelpunkt, sondern die Gemeinschaft. Das gilt für Paulus aus dem Glauben heraus, dass Gott, der Grund aller Liebe, uns Menschen mit einem liebenden Blick ansieht und wir dadurch auch andere so anblicken können.

Aus der Liebe heraus können wir bejahend in der Welt leben und in ihr handeln. Gerade in Zeiten, in denen uns Krisen und Probleme übermächtig erscheinen. Dietrich Bonhoeffer hat es für seine Zeit, in der Krieg und Vernichtung tobten, so ausgedrückt: „Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“ Für mich eine Auslegung dessen, was es heißt, alles aus Liebe zu tun. Und das macht unser Menschsein aus.

Ein gesegnetes Jahr 2024!
Ihr

Dr. Hans Christian Brandy
Regionalbischof für den Sprengel Stade

Predigt über Lukas 14, 16–24

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

ich lese den Predigttext nach Lukas 14:

Jesus erzählte ihnen ein Gleichnis: Ein Mann veranstaltete einen großen Gottesdienst mit Abendmahl und lud viele Gäste ein.17Als das Fest beginnen sollte, schickte er seinen Diener los und ließ den Gästen sagen: „Kommt, jetzt ist alles bereit!“18Aber einer nach dem anderen entschuldigte sich.

Der erste sagte zu ihm: „Ich habe einen Acker gekauft. Jetzt muss ich unbedingt arbeiten. Bitte, entschuldige mich!“ Ein anderer sagte: „Ich habe gerade erst geheiratet. Wir brauchen jetzt Zeit für uns – und am Sonntagvormittag frühstücken wir in Ruhe. Ich kann deshalb nicht kommen. Bitte, entschuldige mich!“ Einer sagte: „Gottesdienst. Es tut mir leid, das ist mir fremd. Gesänge, die ich nicht kenne, Formeln, die ich nicht verstehe. Ich bitte dich: entschuldige mich.“ Und wieder einer sagte: „Als ich Konfirmand war, da war ich nicht freundlich eingeladen. Da musste ich kommen – seitdem ist mir das verleidet. Bitte entschuldige mich.“

Ich unterbreche. Sie haben natürlich gemerkt, liebe Gemeinde, dass das nicht so ganz wörtlich aus dem Lukasevangelium ist, ich habe schon ein wenig Deutung zum Thema dieses Tages eingebaut. Lassen Sie uns auf den ganzen Text hören, diesmal wörtlich nach der Basis-Bibel:

Erzählerin: Jesus war bei einem großen Essen eingeladen.

Einer der Gäste sagte:

GAST Glückselig ist, wer im Reich Gottes am Mahl teilnehmen darf!«

Erz.: Jesus antwortete:

JESUS: Ein Mann veranstaltete ein großes Festessen und lud viele Gäste ein.17Als das Fest beginnen sollte, schickte er seinen Diener los und ließ den Gästen sagen:

DIENER: ›Kommt, jetzt ist alles bereit!‹)

Erz.: Aber einer nach dem anderen entschuldigte sich. Der erste sagte zu ihm:

1 Geladener: Ich habe einen Acker gekauft.

Jetzt muss ich unbedingt gehen und ihn begutachten. Bitte, entschuldige mich!‹

Erz: Ein anderer sagte:

2. Geladener: Ich habe fünf Ochsengespanne gekauft und bin gerade unterwegs, um sie genauer zu prüfen. Bitte, entschuldige mich!‹

Erz: Und wieder ein anderer sagte:

3. Geladener: Ich habe gerade erst geheiratet und kann deshalb nicht kommen.‹

Erz.: Da kam der Diener zurück und berichtete alles seinem Herrn.
Da wurde der Hausherr zornig und sagte zu seinem Diener:
HAUSHERR:  Lauf schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt. Bring die Armen, Verkrüppelten, Blinden und Gelähmten hierher.‹
ERZ: Bald darauf meldete der Diener:
DIENER: Herr, dein Befehl ist ausgeführt, aber es ist immer noch Platz.‹
Da sagte der Herr zu ihm:
HAUSHERR Geh hinaus aus der Stadt auf die Landstraßen und an die Zäune. Dränge die Leute dort herzukommen, damit mein Haus voll wird!‹24Denn das sage ich euch: Keiner der Gäste, die zuerst eingeladen waren, wird an meinem Festessen teilnehmen!«

„Damit mein Haus voll wird!“ Der Hausherr will, dass sein Haus voll wird. Habe ich recht getan, dass ich das in meiner Einleitung so eindeutig auf den Gottesdienst bezogen habe? – Ich glaube, man darf das. Denn das ist das Großartige an den Gleichnissen Jesu, dass sie Geschichten aus dem Alltag erzählen, die etwas sagen über das Reich Gottes – aber in einer großen Offenheit, gerade nicht so, dass man sie genau eins zu eins (allegorisch) übertragen kann auf eine ganz bestimmte Deutung.

Ich nehme mir die Freiheit – und ich meine, dass diese Freiheit den Geschichten von Jesus zu eigen ist -, das Gleichnis heute auf den Gottesdienst zu beziehen. Wir möchten, dass das Haus voll werde, wir möchten, dass Menschen gern mit uns Gottesdienst feiern. Und wir glauben, dass es Gott selbst ist, der einlädt, der uns in seinem Wort und in seinem Mahl begegnen möchte. Deshalb ist es so schade, wenn nur wenige kommen.

Eins allerdings hat sich sehr geändert. Die Geschichte gibt ja denen die Schuld die nicht kommen. Die entschuldigen sich aus ökonomischen Gründen, weil ihnen Geschäfte wichtiger sind. Das wird sehr klar kritisiert, der Hausherr ist gar nicht gut auf die zu sprechen, die ihm absagen.

Aber wenn Leute nicht zum Gottesdienst kommen: Geben wir denen die Schuld? Vor Jahrzehnten war das vielleicht noch so. Da gehörte es vielleicht zu einem anständigen christlichen Leben, dass man zum Gottesdienst geht. Da erzählte man sich von Pastoren, die von der Kanzel schimpften auf die, die nicht kommen (was natürlich immer die Falschen traf). Das ist lange vorbei. Wir machen niemandem Vorwürfe.

Nein – geben wir die Schuld heute nicht eher uns selbst? Ich ringe bei jeder Gottesdienstvorbereitung: Ist das wirklich einladend genug? Kannst Du nicht lebendiger, alltagsnäher, anschaulicher predigen? Wird die Gottesdienstgestaltung die Menschen anrühren? Also: Wenn die Leute nicht kommen mögen, ist das nicht meine Schuld? Sind unsere Gottesdienstformen einladend und vielfältig genug? Haben wir nicht tatsächlich die Konfis aus dem Gottesdienst getrieben, durch die Pflicht, an Gottesdiensten teilzunehmen, die nicht jugendgemäß sind? Es ist leider durch Umfragen bewiesen, dass es vielfach so ist.

Zurück zur Geschichte. Der Hausherr ist beleidigt. Gerade im Orient ist es eine soziale Blamage, wenn eine Einladung ausgeschlagen wird. Er hatte die Einladung ja frühzeitig ausgesprochen – „save the date“ nennt man das heute. Als das Festmahl dann steigen soll, lädt er nochmal aktuell ein – und alle sagen ab. Eine tiefe Kränkung. Und ja, wenn man mit Liebe und Sorgfalt einen Gottesdienst vorbereitet, und dann kommen nur ganz wenige: Das ist manchmal kränkend, das kann wehtun. Und das muss ernstgenommen werden.

Auch der Hausherr reagiert emotional. Er wird zornig. Aber dabei bleibt er nicht stehen. Er wird aktiv. Wir wissen: Man darf Kränkungen nicht einfach überspielen – auch gottesdienstliche Kränkungen nicht. Aber sich auf ihnen auszuruhen, das führt auch zu nichts. Ich sage es pointiert: Dass wir in unseren ziemlich leeren Kirchen sitzen, ganz viele Agende I – Gottesdienst zur selben Zeit machen und gekränkt den Leuten die Schuld geben, dass sie nicht kommen, das ist Unfug!

Der Hausherr bleibt nicht bei seinem Frust sitzen. Er wird kreativ, und das ist für mich die eigentliche Pointe der Geschichte. Er lädt anders ein. Er lädt andere ein. In der ersten Runde schickt er seinen Diener, um die Armen, Verkrüppelten, Blinden und Gelähmten einzuladen. Diejenigen also, die nicht dazu gehören, die sozial oder körperlich bisher ausgeschlossen waren. Die Geschichte ist unerhört inklusiv. Nach Jesus müssen unsere Gottesdienste immer inklusiv sein. Auf jeden Fall ganz buchstäblich: Haben wir Formen für Menschen mit Behinderungen, mit leichter Sprache? Und kommen in unseren Gottesdiensten eigentlich die Armen vor, oder sind wir in der sog. Mittelschicht unter uns? [Ein tolles Beispiel finde ich die sog. Vesperkirchen, bei denen es in der Kirche Essen und Trinken für Bedürftige gibt, dazu Kultur, Gesang, geistliche Impulse und Gespräche. Eine Vesperkirche gibt es m.W. bei uns im Sprengel noch nicht, vielleicht eine gute Idee. Ich komme gern zur ersten Vesperkirche.]

Nach der ersten großen Einladeaktion des Hausherrn ist das Haus nicht mehr leer, aber auch noch nicht voll. Nicht alle Kirchen sind so groß, wie dieser wunderbare Dom. Aber man muss schon ganz schön weit einladen, damit das Haus voll wird. Jedenfalls geht die Kreativität und Menschenfreundlichkeit des Hausherrn noch weiter, sie überwindet Grenzen: Geh hinaus aus der Stadt auf die Landstraßen und an die Zäune. Dränge die Leute dort herzukommen, damit mein Haus voll wird!

Geh hinaus aus der Stadt: Wie können wir mit unseren Gottesdiensten Grenzen überschreiten? Wir können wir andere einladen, anders einladen, andere als bisher erreichen? Ich glaube, dass wir dazu aus vertrauten Pfaden raus müssen, neue Wege gehen, kreativ werden, wie unser Hausherr. Wir haben schon im Vortrag heute Morgen viel dazu gehört. Und das kann keine Gemeinde allein – das wäre eine totale Überforderung. Es darf niemand überfordert werden von uns, die wir für den Gottesdienst verantwortlich sind.

Zurzeit laufen ja in ganz vielen Regionen Gespräche über die künftige Zusammenarbeit in den Regionen. In welchen Strukturen soll das geschehen? Durch Arbeitsteilung, als Kirchengemeindeverband oder Gesamtkirchengemeinde usw.? Ich wünsche mir, dass überall auch gefragt wird: Wie wollen wir in der Region Gottesdienst feiern? Wie schaffen wir eine einladende Gottesdienstlandschaft in einem größeren Raum? Wo ist um 10.00 Uhr Gottesdienst (aber bitte nicht überall gleichzeitig)? Und mit welcher Musik? Wo mit Orgel, wo mit Band, wo gemischt? Wo ist für die Region der jugendgerechte Gottesdienst, gerade für die Konfis? Wo ist Abendgottesdienst in meditativer Form oder nach Taizé? Wann und wo ist Gottesdienst am Werktag? Im Freien? An besonderen Locations, im Schützenzelt, auf dem Sportplatz, in der Kneipe? Das alles, um anders und um andere einzuladen. Aber auch, um mit unseren Kräften gut umzugehen. Niemand kann und muss alles! Für solche Gesprächs- und Beratungsprozesse gibt es Methoden; wir werden in der Konferenz der Superintendentinnen und Superintendenten demnächst darüber beraten.

Ich bin sicher, wir brauchen eine Menge Veränderung. So wie der Hausherr sehr kreativ und radikal Neues unternommen hat. In Sachen Gottesdienst brauchen wir eine gewisse Radikalität im Mut, Neues zu tun und Altes zu lassen.

Ist das nicht doch alles sehr anstrengend? Vergessen wir nicht: Jesus erzählt seine Geschichten um zu zeigen, wie es mit dem Reich Gottes ist. Der erste Satz lautete: Glückselig ist, wer im Reich Gottes am Mahl teilnehmen darf! Unsere Gottesdienste sind ein kleiner, ein bescheidener Abglanz vom Reich Gottes. Mehr müssen sie nicht sein. Der Einladende aber ist Gott selbst. Und: Wir sind zuallererst selbst Eingeladene. Eingeladen zum großen Mahl im Reich Gottes. Wir sind Empfangende. So wie in diesem Gottesdienst, wenn wir Abendmahl miteinander feiern.

Deshalb können wir mit Gelassenheit und Gottvertrauen an die Gestaltung von Gottesdiensten gehen. Wir sind und bleiben immer zuerst Empfangende, Empfangende, durch die Gott wirken will. Darauf vertraue ich. Durch meine sehr unvollkommenen Predigten, durch Konzepte, die nicht perfekt sind. Auch durch die unvermeidlichen liturgischen Pannen, die immer wieder vorkommen. Durch das alles hindurch ereignet sich Gottes Menschenliebe, der möchte, dass sein Haus voll wird. Im Kapitel nach unserem Abschnitt erzählt Jesus vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Sohn. Gott möchte nicht, dass auch nur einer oder eine verloren werde. Gotte Liebe geht jedem und jeder nach, auch Dir. Deshalb feiern wir Gottesdienst. Deshalb laden wir ein.

Letztes Jahr waren wir mit einer Gruppe im Ruhrgebiet in einem Hotel, hinter dem ein originelles soziales Projekt steht und das den schönen Namen „Unperfekthaus“ hat. Ich glaube, das ist auch ein guter Name für unsere Kirche: Unperfekthaus. Ein Haus für unperfekte Menschen. Auch für unperfekte Gottesdienste (gibt es den perfekten Gottesdienst überhaupt?) Ein Haus aber, das etwas widerspiegelt von Gottes Liebe und Barmherzigkeit. Ein Ort, der der Erbarmungslosigkeit und Gnadenlosigkeit unserer Zeit etwas entgegensetzt. Im Namen der Gnade Gottes.

Ja, wir sollen und wollen tun, was wir können. Durch schön gestaltete Gottesdienste. Auch durch gute Konzepte in der Region und viele neue Ideen – hinaus zu den Landstraßen und Zäunen! Aber noch mehr lasst uns Gott zutrauen, der Menschen durch sein Wort und sein Sakrament anspricht, Orientierung schenkt und Trost. Und dieses Wort und dieser Trost und diese Ermutigung - sie gelten uns selbst zuerst.

Amen

Predigt zum Generalkonvent 2023 über 1. Petr 3,8-17 28. Juni 2023, Stadtkirche Rotenburg

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Schwestern und Brüder,

wir haben den Predigttext für den kommenden Sonntag aus 1. Petr 3 gehört. Eine Sammlung paränetischer Worte, keine ganz einfache – man wird auswählen müssen (wenn man diesen Text denn nimmt). Ich wähle aus, und das fällt mir nicht schwer für unseren Tag über die Feste des Lebens: Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid, auf dass ihr Segen erbt.

Segnet, weil ihr dazu berufen seid. Wie könnte ein biblisches Wort besser passen für den Auftakt eines Tages über Amtshandlungen. Segnet, weil ihr dazu berufen seid.

Drei Begegnungen aus den letzten Wochen.

Begegnung 1: Letzte Woche sind wir mit den Regionalbischöfinnen und Regionalbischöfen aus dem Bereich der EKD in Erfurt. Die Geschwister aus der Mitteldeutschen Kirche haben einen Pfarrer aus Gera eingeladen. Er erzählt: Es gibt in Gera noch 8 % Christen. Seine Gemeinde besteht zu einem Drittel aus altgewordenen Bergbau-Arbeiterfamilien, zu einem Drittel aus Harz IV-Empfängern und zu einem Drittel aus Migranten. Sie machen im Kirchenvorstand eine Klausur und stellten fest: Wenn sich nichts ändert, gibt es uns in 30 Jahren nicht mehr. Aber: Sie haben einen Friedhof. Sie beschließen: Wir sperren diesen Friedhof für nichtchristliche Trauerfeiern (es gibt in der Stadt Alternativen). Aber wir bieten allen eine christliche Trauerfeier an, egal ob Kirchenmitglied oder nicht. Es gibt anfangs Widerstände, im Kirchenkreis – „ihr könnt doch keine Nichtchristen beerdigen“ – wie bei den Bestattern. Aber sie bleiben konsequent. Anfangs nehmen viele die christliche Trauerfeier nur widerwillig in Kauf. Mit der Zeit aber spricht sich herum: Der Pfarrer macht das gut. Er kann besonders gut das Leben von Menschen würdigen. Wo jemand mal in der Kirche gewesen war, kriegt der Pfarrer durch Telefonanrufe den Taufspruch raus. Und, so sagt er, in jeder Trauerfeier spricht er vom christlichen Glauben und von der Hoffnung auf Auferstehung. Inzwischen macht er über 100 Beerdigungen im Jahr. Es gibt verstärkt Eintritte in die Kirche. Der Friedhof wurde inzwischen zweimal durch Zukäufe erweitert.

Und: der Friedhof macht satte Gewinne. Für die Bestattung von Nichtkirchenmitgliedern nehmen sie 250 Euro – weniger als freie Redner. Mit den Gewinnen konnten sie inzwischen eine halbe Pfarrstelle einrichten. Sie ist besetzt mit einer jungen Kollegin, die vor allem Arbeit mit Kindern in einem sozialen Brennpunkt macht. Dort kommt es jetzt verstärkt zu Taufen. Was Rudolf Bohren einst sagte: Die Kasualien als missionarische Gelegenheit – haben wir das hier in völlig anderer Weise wieder? Gemeindeaufbau durch Beerdigungen?!

Begegnung 2: Wir sitzen in einer AG zusammen mit dem Leiter der Rechtsabteilung der Badischen Landeskirche. Der Kirchenjurist aus Karlsruhe erzählt uns u.a., sie hätten gerade ein neues Kasualgesetz beschlossen. Sie denken jetzt konsequent von den Kirchenmitgliedern her. So haben sie eine Regelung ins Gesetz geschrieben: Wenn eine Pfarrperson um eine Amtshandlung gebeten wird, ist sie zuständig. Völlig unabhängig von der Parochiezugehörigkeit. Entweder der angesprochene Pastor, die Pastorin macht es selbst – oder sie kümmert sich, wer es macht. Kirchen mit vielen Kasualien bekommen einen finanziellen Zuschlag. Und das Dimissoriale haben sie einfach abgeschafft. Es gibt jetzt nur noch eine Berichtspflicht.

Begegnung 3: Praxistag unseres Sprengels zum Gottesdienst in Verden vor zehn Tagen. Workshop mit Pn. Elisabeth Rabe-Winnen: Segen geben und Segen sein. Kasualien neu denken und feiern. Gleich zu Beginn sollen wir zu zweit üben zu segnen. Neben mir steht eine ehrenamtliche Person, die ich bisher nicht kenne. Sie bittet mich zu beginnen. Wir spüren beide, dass man einen kleinen Moment eine Scheu-Grenze überwinden muss. Dann erzählt sie, eine bestimmte Situation in der Familie belaste sie sehr. Sie bittet mich um einen Segen und um Handauflegung. Ich spreche ein kurzes Gebet und einen Segen. Und knote ihr ein Segensband ums Handgelenk. Dann bin ich dran. Ich nenne fordernde Dinge, die ich in der kommenden Zeit alle vorbereiten muss, u.a. auch diesen Generalkonvent. Sie macht für jedes Genannte einen Knoten ins Band, und sie spricht ein Gebet und einen Segen für mich – zum ersten Mal in ihrem Leben, wie sie sagt. Hinterher sind wir beide tief angerührt. Sie sagt: Ich habe gespürt, wie Kraft fließt. Und mir ging es nicht anders, solange ich auch „religiöser Profi“ bin. Der persönlich zugesprochene Segen rührt tief an, er wird zur intensiven geistlichen Erfahrung. Und so kommt es, dass ich heute ein Armband trage mit einem Segens-Knoten für diesen Generalkonvent. Das hätte ich mir früher auch eher nicht träumen lassen.

Segnet, weil ihr dazu berufen seid… Sie alle können solche Geschichten erzählen. Von bewegenden Tauffesten in diesen Wochen. Von persönlichen Segnungen und berührenden Amtshandlungen. Oder von den Trauungen to go, den Spontanhochzeiten, jetzt am Wochenende in Bremerhaven, bei denen die Resonanz so überwältigend war, dass nach deutlich über 20 Trauungen am Ende einige Paare aufs nächste Mal vertröstet werden mussten.

Bewegende Geschichten. Und wir mittendrin als Pastorinnen und Pastoren. Zwischen so vielen anrührenden Erfahrungen - und manchem Frust. Wenn die Extrawünsche jeden sinnvollen Rahmen übersteigen. Wenn man das Gefühl hat, als Palmkübel missbraucht zu werden. Wenn kurz nach der Trauung, bei der man sich richtig Mühe gegeben hat, der Kirchenaustritt kommt. Und natürlich: Wenn die Zahlen zurückgehen, wenn viele auch ohne kirchliche Begleitung und Gottes Segen zurechtkommen, manchmal bis ins engste persönliche Umfeld. Das frisst doch an einem – an mir jedenfalls tut es das.

In diese Situation hinein höre ich heute den biblischen Text als Kasualparänese. Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern segnet vielmehr, weil ihr dazu berufen seid. Die Autorin in den Göttinger Predigtmeditationen, die im Übrigen unsere Perikope mit sehr spitzen Fingern anfasst, formuliert sehr schön: „Segnet vielmehr – von der Widerständigkeit der Großzügigkeit“.

Ja, manchmal kann man sich mit Gründen ärgern. Aber ich glaube, wir müssen in Kasualdingen lernen, neu großzügig zu werden. Von der Widerständigkeit der Großzügigkeit. Ich muss das auch lernen, als jemand der jahrelang im Landeskirchenamt an unseren Kasualgesetzen mitgewirkt hat und bis heute immer wieder Auskünfte gibt, was zulässig ist und was eben auch nicht. Vieles lange Selbstverständliche erodiert wie Eis in der Sonne, und damit auch manche Regeln.

Aber es bleibt die Sehnsucht nach Segen, nach Begleitung und Gottesnähe. Und wenn die Wünsche noch so schräg erscheinen mögen. Und wenn die Zuständigkeit unklar ist: Lasst uns das intern gut klären, natürlich, niemand darf überlastet werden. Aber lasst uns großzügig sein, lasst uns ein weites Herz haben. Gott hat es auch. Segnet, weil ihr dazu berufen seid.

Ganz klar, die kritischen Fragen liegen nahe. Ist denn jetzt alles möglich? Verschleudern wir, was uns Heilig ist? Das sei Ferne. Es wird theologisch sorgfältig zu bedenken und zu verantworten sein, was wir tun – und da wird es natürlich auch Grenzen geben.

Einen Hinweis finde ich in unserem Predigtabschnitt: Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist. Also: Verschweigt eure Hoffnung nicht und ihren Grund in Jesus Christus. Verschweigt euren Glauben nicht. Redet diese andere Dimension der Wirklichkeit Gottes hinein in unsere Zeit. Verschweigt auch nicht, warum wir den Segen mit dem Zeichen des Kreuzes verbinden: Weil Segen natürlich keine einfache Garantie für gelingendes und gesundes Leben ist, sondern weil das Mitgehen Gottes seinen intensivsten Ort im Kreuz Jesu findet und in seiner Auferstehung. Das lebensschenkende und rettende Mitsein Gottes sprechen wir im Segen zu – unter dem Zeichen des Kreuzes. Das lasst uns nicht verschweigen, es ist gerade Teil einer weitherzigen Großzügigkeit. Wir brauchen eine theologisch verantwortete und geistliche gefüllte Großzügigkeit! Seid allezeit bereit zur Verantwortung über eure Hoffnung und euren Glauben. Und das mit Sanftmut und Ehrfurcht, so der 1. Petrusbrief – ich sage doch: Eine Kasualparänese; ich werde das als neue exegetische These einbringen.

Klar, das Beispiel aus Gera – Gemeindeaufbau durch Beerdigungen – ist hoch diskutabel. Keine Ahnung, ob man das irgendwo ähnlich machen kann und soll. Aber die Kombination von großer Weite und klarem evangelischen Zeugnis fand ich stark.

Nach einer Ordination in der jüngeren Zeit schrieb mir die ordinierte Person hinterher: „Es war sehr berührend, den Segen unseres Gottes nicht nur im Wort zu hören, sondern auch körperlich durch Gesten zu erspüren.“ Ja, das ist ein Geheimnis des Segens: Die Körperlichkeit, die Leibhaftigkeit. Augenkontakt, Berührung, manchmal auch der Geruch von Salböl. Gottes Freundlichkeit spüren mit allen Sinnen. Das rührt viele an, und es ist eine Dimension, von der wir Protestanten eher nicht zu viel haben.

Und dann: Es war eben der Segen bei einer Ordination. Dieser Segen verbindet uns alle. Wir segnen als Gesegnete. Wir segnen als Beauftragte unseres Gottes. Segnet, weil ihr dazu berufen seid. Und das heißt auch: Wir tun es so verantwortlich und liebevoll und kreativ wir können. Aber mehr müssen wir auch nicht tun. Das Übrige können wir getrost unserem Gott überlassen. Er mag Gutes daraus werden lassen. Und das gilt auch dann, wenn uns nicht alles optimal gelingt, wenn die Zeit für eine richtig gute Ansprache nicht mehr gereicht hat, wenn Fehler passieren und manches bruchstückhaft bleibt.

Am schönsten hat das für mich immer noch Fulbert Steffensky formuliert: „Der Segen ist eine Form … des Glaubens …, in der zwei Menschen von sich selber absehen, der Segnende und der Gesegnete. Der Gesegnete: Er erlaubt sich den Sturz in das Versprechen der Geste und des Wortes. Ebenso sieht der Segnende [und hier geht es um uns] von sich ab. Er steht nicht für das Versprechen, das er gibt… Vielleicht ist das die Demut der Segnenden: sie erschaffen die Welt nicht. Sie spenden etwas, was sie nicht haben. Ihre eigene Blöße hält sie nicht ab, aufs Ganze zu gehen und Gott als Versprechen zu geben.“ Im Segen, so Steffensky, verdichtet sich eine ganze Anthropologie: „Empfangen, was man nicht erarbeitet hat; spenden, was man nicht hat. Das ist das große Spiel der Freiheit von allen Selbstherstellungszwängen.“

Weil das so ist, tut es gut, zu segnen, auch zu den Festen des Lebens.  Wir segnen als Gesegnete, als von Gott Berufene und Getragene. Und wir segnen, weil darauf Segen ruht: segnet, weil ihr dazu berufen seid, auf dass ihr Segen erbt.

Amen.

Ostern - Wider die Zukunftsangst

Die Aussichten sind düster. Das empfinden viele Zeitgenossen derzeit. Selbst wenn es vielen zu diesem Osterfest gut geht: In die Zukunft schauen die meisten eher skeptisch, wie aktuelle Umfragen zeigen. Die Sorge vor einer Ausweitung des Krieges in der Ukraine ist im März 2023 noch einmal gestiegen. Die kräftige Inflation lässt fürchten, dass man nicht mehr über die Runden kommt oder zumindest der Wohlstand sinkt. Dazu kommt die Sorge vor den Folgen des Klimawandels. Der sogenannte „Angstindex“, den Wissenschaftler aus allen abgefragten Sorgen der Menschen erheben, ist deutlich gestiegen. Erhofften sich Menschen früher von der Zukunft den Fortschritt, erwarten sie heute, dass es bergab geht. Über die Jüngeren liest man immer wieder das Etikett „Generation Zukunftsangst“ – mir zieht sich das Herz zusammen dabei.

In dieser Lage feiern wir Ostern 2023. Vielleicht passt das ganz gut. Die Ostergeschichten der Bibel beginnen bei einer „Gruppe Zukunftsangst“. Der Kreis der Leute, die Jesus begleitet hatten, ist nach seiner Kreuzigung allein geblieben. Mit Jesus mitbegraben sind ihre Hoffnungen und Erwartungen nach tollen gemeinsamen Jahren. Jetzt ist er tot. Krise. Der „Angstindex“ – was für ein Unwort! – ist am Anschlag.

Es ist nicht erklärbar, es bleibt ein Geheimnis. Aber in genau diese Situation hinein begegnet der auferstandene Jesus seinen Gefährten. Den Frauen zuerst. Er löst den Knoten ihrer Angst. Er lässt sie neu auf Gottes Nähe und Gottes Zukunft vertrauen. Und er schickt sie auf den Weg. Aus Zweifel wird Glaube, aus Resignation wird Hoffnung, aus Mutlosigkeit wird Kraft. Aus der Gruppe „Zukunftsangst“ entsteht die Gruppe „Hoffnung“. Sie bildet den Anfang der christlichen Gemeinde.

Keine Frage: Die Gefahren sind ja real. Wie es mit dem Krieg weitergeht, weiß niemand, die Bedrohungen durch den Klimawandel sind unabweisbar. Aber beherrschen lassen sollten wir uns von der Angst nicht. Jesus schickt seine frustrierten Anhänger mit neuer Zuversicht auf den Weg – mit einem starken Gottvertrauen. Ostern ist das Fest der starken Hoffnung, dass Tod, Gewalt und Terror nicht das letzte Wort behalten werden.

Die Botschaft von Jesu Auferstehung, so geheimnisvoll sie bleibt, begründet eine neue Zuversicht. Die macht nicht leichtfertig, sondern lässt Menschen mit Kraft und Vernunft eintreten für ein friedliches Miteinander und eine gute gemeinsame Zukunft. Wer nicht von Furcht bestimmt ist, kann mit freiem Herzen und freien Händen eintreten für den und die Nächste.

Die österliche Botschaft steht dafür, dass Gott selbst den Horizont weitet und erhellt. So wie am Ostermorgen die aufgehende Sonne davon kündet, dass Gottes Wille für unsere Welt das Leben ist. Christus ist auferstanden – das ist Gottes letztes Wort. In diesem Zeichen der Hoffnung feiern wir auch in diesem Jahr Ostern - gegen alle Zukunftsangst.

Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Osterfest!

Regionalbischof
Dr. Hans Christian Brandy, Stade

„Du bist ein Gott, der mich sieht“ (1. Mose 16,13)

Es ist heiß. Unerträglich heiß. Denn sie ist in die Wüste geflohen. Weg von den Demütigungen. Schwanger ist sie. Und weiß nicht mehr weiter. Da tritt ein Engel zu ihr und sie, die bislang nur die namenlose Magd war, wird vom Boten Gottes mit ihrem Namen angesprochen: Hagar.

Ein Name gibt Würde und verleiht Ansehen. Und manchmal sind Namen auch sprechend. Wie der Name Hagar. Übersetzt heißt er: Fremde.

Wer ist Hagar, diese Frau, die erste weibliche Gestalt der Bibel, die von Gott durch einen Engel angesprochen wird? Sie ist eine Ägypterin, die als Magd bei Sarah und Abraham, den Erzeltern Israels, lebt. Da Sarah bislang kinderlos geblieben ist, gibt sie ihre Magd ihrem Mann Abraham, damit er „zu ihr gehe“. Ein üblicher Brauch im Alten Orient: Kann die Herrin kein Kind bekommen, schläft ihr Mann mit der Magd. Im Schoß der Herrin bekommt die Magd ihr Kind und das Neugeborene gilt als legitimer Erbe. Quasi eine Art „Leihmutter“ soll Hagar sein.  Für uns heute ein mehr als befremdlicher Brauch.

Es kommt zu Konflikten. Die schwangere Hagar flieht noch vor der Geburt, weil sie die Demütigungen ihrer Herren nicht mehr erträgt. So findet der Engel sie in der Wüste und spricht sie an: „Hagar, wo kommst du her und wo willst du hin?“ So beginnt das Gespräch zwischen der Frau und dem Boten Gottes. Manchmal braucht es vielleicht nicht mehr als diese Frage an einen verzweifelten Menschen: „Wie geht es dir und was hast du vor?“

Der Engel sagt Hagar zu, dass sie einen Sohn gebären wird, dessen Name „Ismael“ heißen soll. Wieder ein sprechender Name, denn übersetzt heißt er: Gott hört. Hagar wird wieder zurückkehren zu Sarah und Abraham. Aber vorher nennt sie Gott bei Namen: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“  Noch ein sprechender Name in dieser wunderbaren Geschichte, in der Gott hört und sieht und sich der Fremden annimmt.

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Die Worte dieser Frau begleiten uns durch die nächsten zwölf Monate: Hagar legt ein ganz persönliches Glaubensbekenntnis ab. Und lädt ein, diese Erfahrung zu teilen: Gott sieht mich.

Gesehen werden. Wahrgenommen, ernstgenommen werden. Das brauchen Menschen. „Mich sieht niemand“, höre ich manchmal als Klage. Oder: „Niemand sieht, was ich hier tue.“ Nicht gesehen zu werden, das kränkt und das ist der innere Motor für Konflikte. Nicht gesehen werden, das macht einsam und lässt Menschen in Not allein. In Berthold Brechts Dreigroschenoper heißt es: „Denn die einen sind im Dunkeln, und die anderen sind im Licht. Und man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ Dazu ist die Jahreslosung ein Gegenwort: Für Gott ist niemand im Dunkeln. „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Der Engel Gottes wendet sich gerade der Fremden zu. Gott sieht und hört ihr Elend.

Was sieht und hört Gott in diesem neuen Jahr 2023? Er sieht eine Welt in Unordnung und Krisen. Er sieht viele Menschen im Dunkeln. Als Christenmenschen vertrauen wir darauf: Gott hat durch die Geburt von Jesus Christus das Dunkel hell gemacht – so hören wir zu Weihnachten. Gott sieht uns liebevoll an und ist an unserer Seite. Gott lässt sein freundliches Angesicht leuchten über jedem Menschen. In den Augen Gottes wird niemand übersehen.

Das kann auch unseren menschlichen Blick auf die Welt verändern. Es ermutigt dazu, dass auch wir auf andere mit dem Blick der Liebe und Barmherzigkeit schauen. Gerade auf die im Dunkeln. Wo sind in meinem Umfeld Menschen, deren innere oder äußere Not niemand wahrnimmt? Wo kann ich zeigen: „Ich sehe dich“? Wo kann ich helfen? Kein Mensch darf übersehen werden.

Wir leben in herausfordernden Zeiten. Das ist wahr. Aber wir vertrauen auf einen Gott, der sieht und hört und Menschen Halt gibt - und die nötige Orientierung, damit wir verantwortungsvolle Wege gehen können.

Ein gesegnetes Jahr 2023!

Ihr

Dr. Hans Christian Brandy
Regionalbischof für den Sprengel Stade

Predigt über „Dies ist die Nacht, da mir erschienen“

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

Kundige wussten es schon länger. Aber zu Weihnachten konnte man es einmal wieder nachlesen: „Weihnachtliches Singen macht fit und glücklich“. Ich weiß nicht genau, ob das, was Sie heute Mittag gegessen haben, unter gesundheitlichen Aspekten ausschließlich empfehlenswert war. Dass Sie jetzt im Gottesdienst sind und wir gemeinsam singen, ist es eindeutig. Denn schon nach wenigen Liedstrophen sorgen Veränderungen im Hormonspiegel dafür, dass der Vorweihnachtsstress abfällt und sich ein Glücksgefühl bei allen einstellt. „Gesundheitsexperten empfehlen daher das weihnachtliche Singen, denn es wirkt wie Fitnesstraining und Meditation in Einem, der Körper produziert einen Glückscocktail, u.a. aus Serotonin, Dopamin und Endorphin. Gleichzeitig senkt der Gesang die Konzentration von Hormonen, die aggressiv und stressanfällig machen. Und zusätzlich wirkt das Singen noch wie leichtes Fitnesstraining und stärkt Herz und Kreislauf.“

Also – gute Gründe zu singen, zuhause, im Gottesdienst oder dienstags bei Hauke Ramm in der Kantorei. Und es gibt einen weiteren guten Grund: Wir haben wunderbare Weihnachtslieder, herrliche Lieder mit großartigen Texten. Jedes Jahr lege ich an den Weihnachtstagen der Predigt ein Weihnachtslied zugrunde. In diesem Jahr ist es das Lied unter der Nr. 40: Dies ist die Nacht, da mir erschienen.

Das Lied steht in der Hitliste der Greatest Hits zu Weihnachten nicht ganz oben, aber es hat es in sich. Lassen Sie uns die erste Strophe miteinander singen.

1) Dies ist die Nacht, da mir erschienen
des großen Gottes Freundlichkeit;
das Kind, dem alle Engel dienen,
bringt Licht in meine Dunkelheit,
und dieses Welt- und Himmelslicht
weicht hunderttausend Sonnen nicht.

Unser Lied stammt von dem Liederdichter Kaspar Friedrich Nachtenhöfer. Nachtenhöfer war „ein trefflicher Musicus und geschickter Poet“, wie ein Zeitgenosse sagte. Er ist 1624 in Halle geboren, wuchs also während des Dreißigjährigen Krieges auf. Er studierte an der Universität in Leipzig Theologie und wurde Pastor in der Nähe von Coburg, heute an der Grenze von Bayern nach Thüringen. Später war er Pastor direkt in Coburg, dort ist er 1685 gestorben, 61 Jahre alt. Kaspar Friedrich Nachtenhöfer hat einige Lieder hinterlassen, die bis heute gesungen werden. Eins steht in unserem Gesangbuch: Dies ist die Nacht, da mir erschienen.

Das Lied versetzt sich in die Christnacht, in die Nacht, in der der Stern über den Feldern von Bethlehem steht. Die Weihnachtsgeschichte ist ja eine Nachtgeschichte. Sie spielt im Dunkeln. Ein paar Fackeln vielleicht in der Weite der Dunkelheit. Ein Lagerfeuer. Mehr nicht. Wie ich zufällig weiß, gab es auch noch keine Weihnachtsbeleuchtung.

Nachtenhöfer schreibt ein Lied über Weihnachten als Meditation über die Nacht – und über das Licht, über das Licht, dass durch Weihnachten in unsere Welt leuchtet: das Kind, dem alle Engel dienen, bringt Licht in meine Dunkelheit, haben wir gesungen. Und das scheint mir in dieses Jahr 2022 gut zu passen.

Was mich besonders bewegt: Von Nächten hat Kaspar Friedrich Nachtenhöfer eine Menge gewusst in seinem persönlichen Leben. Mit seiner ersten Frau, noch als Dorfpastor, hat er fünf Kinder, von denen drei früh sterben: eins am Geburtstag der Mutter, eins zu Weihnachten und eins vier Stunden nach dem Tod seiner Mutter. Auch eine zweite Ehe Nachtenhöfers endet nach wenigen Jahren durch den Tod seiner Frau nach der Geburt des zweiten Kindes. Nachtenhöfer trägt ins Kirchenbuch ein: „Meine herzliebste Hausfrau, Maria Elisabeth Weissin, so am vergangen Montag sanft und selig in großem Glauben und Andacht nach fünfjährigem, friedlichem Ehestand verschieden, des Alters noch nicht 24 Jahr.“ Vier Jahre bleibt der Witwer mit seinen vier Kindern allein, dann heiratet er ein drittes Mal. Aber auch diese Frau muss er zu Grabe tragen.

Auch wenn für frühere Jahrhunderte der Tod sehr viel selbstverständlicher zum Leben gehörte als für uns, ist das alles nur schwer zu ertragen. Es wirkt sich jetzt auch auf Nachtenhöfers Gesundheit aus. Nur auf Drängen seiner Freunde heiratet er noch ein viertes Mal. Am Ende hat er drei Ehefrauen und zwölf Kinder zu Grabe getragen. Wir wissen nicht genau wann, aber in dieses Leid hinein dichtet er sein Lied von dem Licht, das in die Dunkelheit hineinscheint. Kaspar Friedrich Nachtenhöfer hat nicht nur den Dreißigjährigen Krieg mit allen seinen Zerstörungen erlebt, er hat auch persönlich gewusst, was innere Nacht ist.

Und er schreibt und glaubt gegen diese Nacht an. Weihnachten steht dafür, dass Gottes Licht gerade in unsere tiefsten Dunkelheiten leuchtet: das Kind, dem alle Engel dienen, bringt Licht in meine Dunkelheit. Dieser eine, einfache Satz enthält im Grunde die ganze Weihnachtsbotschaft.

Lassen Sie uns die Strophen 2 und 3 singen.

2) Lass dich erleuchten, meine Seele,
versäume nicht den Gnadenschein;
der Glanz in dieser kleinen Höhle
streckt sich in alle Welt hinein;
er treibet weg der Höllen Macht,
der Sünden und des Kreuzes Nacht.

3) In diesem Lichte kannst du sehen
das Licht der klaren Seligkeit;
wenn Sonne, Mond und Stern vergehen,
vielleicht noch in gar kurzer Zeit,
wird dieses Licht mit seinem Schein
dein Himmel und dein Alles sein.

Nachtenhöfer hat genug von der Nacht gewusst. Er schreibt und glaubt gegen diese Nacht an. Er nimmt es ganz persönlich, dass zu Weihnachten Gottes Licht für ihn, für Dich und für mich zur Welt gekommen ist. In seiner Barocksprache heißt das: „Lass dich erleuchten, meine Seele, versäume nicht den Gnadenschein“ Meine Seele. Immer wieder sagt er Ich: Dies ist die Nacht, da mir erschienen des großen Gottes Freundlichkeit. Es kommt alles darauf an, dass die Botschaft von Weihnachten zu meiner Botschaft wird, dass ich sie persönlich annehme. „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren“, so sagt es der Dichter Angelus Silesius, im selben Jahr wie Nachtenhöfer geboren.

Das spannende an Nachtenhöfers Lied: Dieses sehr Persönliche ist der eine Pol. Der andere Pol ist eine große kosmische Weite. Das Kind, dem alle Engel dienen, bringt Licht in meine Dunkelheit, und dieses Welt- und Himmelslicht weicht hunderttausend Sonnen nicht. Das Kind in der Krippe wird zusammengedacht mit der Weite des Kosmos – das macht das Geheimnis von Weihnachten aus. Das zieht sich durch das ganze Lied hindurch. Nachtenhöfer denkt an die ärmlichen Umstände der Geburt Jesu und dichtet: der Glanz in dieser kleinen Höhle streckt sich in alle Welt hinein.

Was für eine Zusage auch für das Weihnachtsfest 2022. Für das Fest in einem Jahr, in dem wir ganz neue Erfahrungen von Dunkelheit gemacht haben, ganz buchstäblich, weil manche Beleuchtung ausgeschaltet werden musste. Aber bei uns ist das harmlos, ganz anders als bei den Menschen in der Ukraine, denen die russische Armee gezielt die Elektroversorgung und die Heizung zerschießen, damit sie im Kalten und Dunkeln sitzen. Ich kann diese Gedanken nur mühsam aushalten. Und ich wünsche und bete, dass viele der betroffenen Menschen, die ja Christen wie wir sind, die Erfahrung dieses weihnachtlichen Trostes machen: der Glanz in dieser kleinen Höhle streckt sich in alle Welt hinein; er treibet weg der Höllen Macht, der Sünden und des Kreuzes Nacht.

Natürlich sind auch wir gefragt, zu tun was an uns ist. Davon singt die 4. Strophe: Menschen, die von Gottes Licht beleuchtet werden, werden selbst Lichtträger. Lass nur indessen helle scheinen dein Glaubens- und dein Liebeslicht. Menschen, die vom weihnachtlichen Geheimnis ergriffen sind, die helfen, dass es ein wenig heller wird auf dieser Welt. Durch Hilfe für die Menschen in der Ukraine und für die, die zu uns geflohen sind. Aber auch für alle anderen Geflüchteten, da darf es keine zwei Klassen geben – gerade an ihnen zeigt sich unsere Bereitschaft zur Nächstenliebe, wenn ich an eine aktuelle politische Debatte in Sachsen denke. Weihnachtliche Menschen sind Menschen, die für eine Kultur der Barmherzigkeit einstehen, für Solidarität und Nächstenliebe. Weihnachtliche Menschen tragen das Licht von Weihnachten weiter, weiß Nachtenhöfer: willst du genießen diesen Schein, so darfst du nicht mehr dunkel sein. Wir singen die 4. und 5. Strophe.

4) Lass nur indessen helle scheinen
dein Glaubens- und dein Liebeslicht;
mit Gott musst du es treulich meinen,
sonst hilft dir diese Sonne nicht;
willst du genießen diesen Schein,
so darfst du nicht mehr dunkel sein.

5) Drum, Jesu, schöne Weihnachtssonne,
bestrahle mich mit deiner Gunst;
dein Licht sei meine Weihnachtswonne
und lehre mich die Weihnachtskunst,
wie ich im Lichte wandeln soll
und sei des Weihnachtsglanzes voll.

Ein Lied über das Licht, das unsere Nächte erhellt. Die Nacht kann tief und schwarz sein, bedrohlich. In der Nacht werden die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Orientierung und Halt oft besonders bedrängend. Nachts können Probleme groß und scheinbar unüberwindlich werden. Sorgen türmen sich zu bedrohlichen Szenarien auf, wir sind Gedanken und Gefühlen schutzlos ausgeliefert. Unerträglich kann die Nacht sein, vor Schmerzen, Sorgen, Schlaflosigkeit. In der Nacht kommt Gott zur Welt. Auch in meine und Deine leidvollen Nächte Dies ist die Nacht, da mir erschienen des großen Gottes Freundlichkeit; das Kind, dem alle Engel dienen, bringt Licht in meine Dunkelheit.

Ich erinnere mich an einen Krankenhausbesuch. Ich besuchte jemanden, der mit einer schweren Krebserkrankung behandelt wurde. Die Person erzählte mir von der Krankheit, von ihrem gefährlichen Ernst, der unsicheren Perspektive. Auch von der Angst, die die Krankheit auslöst. Da machte jemand wirklich Nachterfahrungen. Während des Gesprächs saß ich so, dass genau hinter dem Kopf meines Gegenübers eine Schrifttafel zu lesen war mit dem bekannten Wort von Dietrich Bonhoeffer: Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen man. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen. Und ganz gewiss an jedem neuen Tag. Darüber haben wir dann auch gesprochen: Gott ist mit uns am Abend und Morgen. Das wissen wir, weil Gott zwischen Abend und Morgen uns nahegekommen ist, in der Nacht.

Die letzte, die 5. Strophe ist ein Gebet. Ein wunderbares Weihnachtsgebet. Übrigens ist es das erste Mal in der Geschichte, dass in einem Lied das Wort „Weihnachten“ auftaucht. Das Gebet gipfelt in den wunderbaren, einfachen Worten: Lehre mich die Weihnachtskunst. Die Weihnachtskunst – das wäre jetzt vielleicht eine eigene Predigt. Aber ich lasse dieses Gebet so stehen und spreche es für mich und für uns alle. Dein Licht sei meine Weihnachtswonne und lehre mich die Weihnachtskunst, wie ich im Lichte wandeln soll und sei des Weihnachtsglanzes voll.

Amen

Der Friede des Herrn sei mit euch allen. Amen.

Liebe Gemeinde,

ich beginne mit einigen Zeilen, die nicht von mir selbst sind: „Weihnachten ist die Zeit der Zeitenwende. In der dunklen Jahreszeit, wenn die Tage kurz und das Licht schwach ist, feiern wir das Licht, das in Jesus Christus in unsere Welt gekommen ist. Jesus ist das Licht, das in der Finsternis leuchtet und die Dunkelheit vertreibt.“

Diese Worte sind, wie gesagt, nicht von mir selbst. Sie sind von einem Computer. Seit Kurzem gibt es eine Internetseite, die man also normaler Computernutzer aufrufen kann und auf der einem Künstliche Intelligenz Texte schreibt: ChatGPT.[1] Als ich vorgestern mit meiner Predigt nicht so richtig vorankam, habe ich mich dort angemeldet und dann als allererstes auf der englischsprachigen Seite auf Deutsch eingegeben: „Schreibe mir eine Andacht zu Weihnachten über Zeitenwende“. (Zeitenwende natürlich, weil es das Wort des Jahres 2022 nach dem Russischen Überfall auf die Ukraine ist und weil wir zugleich unsere Zeit nach der Geburt Jesu zählen und Weihnachten für eine ganze andere Zeitenwende steht.) Ich habe meine Frage also eingegeben – und der PC bzw. die Künstliche Intelligenz begann sofort, mir einen Text auf dem Bildschirm zu schreiben. Ich gestehe, ich bin beinahe vom Stuhl gefallen. Eine knappe DIN A 5 - Seite entstand da vor meinen Augen, Zeile für Zeile. Inhaltlich und formal durchaus brauchbar. Der Schluss lautet: „Lassen Sie uns also in dieser Weihnachtszeit dankbar sein für das Licht, dass Jesus in unsere Welt gebracht hat, und uns bemühen, dieses Licht in unserem Leben zu leben und weiterzugeben. Möge diese Zeit der Zeitenwende für uns alle eine Zeit der Freude, des Friedens und der Besinnung sein. Amen.“

Klar, das ist voller Floskeln und Phrasen. Aber es macht durchaus Sinn, es ist formal gut aufgebaut und natürlich finde ich auch Formulierungen, die andere und ich selbst benutzen. Das ist ja kein Wunder, dieses Computerprogramm arbeitet ja so, dass es Millionen von Texten im Internet auswertet und daraus neue zusammenstellt. Deshalb ist das Programm nicht wirklich kreativ, aber es kann Unmengen von Informationen sammeln und neugestalten. Das ist noch längst nicht perfekt, aber ich gestehe, dass mir etwas schwindlig wird, wenn ich darüber nachdenke: Wenn das heute schon ziemlich gut ist, was wird in zehn oder zwanzig Jahren möglich sein? Ist das eine Möglichkeit, dass wir dem aufziehenden Pastorenmangel begegnen, indem wir hier einen PC mit einem Lautsprecher auf die Kanzel stellen?

Übrigens, was das Programm noch nicht hat, ist Humor. Ich habe gefragt: „Kannst Du mir einen Witz zu Weihnachten erzählen?“ Antwort: „Gerne! Hier ist ein Witz zu Weihnachten: „Warum war der Weihnachtsmann immer so müde, wenn er Geschenke ausgeliefert hat? Weil er den ganzen Tag ‚Ho ho ho‘ gesagt hat!“ Daraufhin habe ich nachgehakt: Dieser Witz ist nicht sehr lustig. Hast Du noch einen? Antwort: Es tut mir leid, wenn der Witz nicht deinen Geschmack getroffen hat. Hier ist noch ein anderer Witz zu Weihnachten: „Warum hat der Weihnachtsmann keine Freunde? Weil er immer ‚Ho ho ho‘ sagt!“ Ich hoffe, dieser Witz bringt dich zum Schmunzeln. Na ja.

Ich weiß nicht, wohin sich solche Künstliche Intelligenz entwickeln wird, was diese Programme uns an Arbeit abnehmen können und was gefährlich sein kann. Ich ahne aber, dass uns diese Fragen noch sehr beschäftigen werden und dass es unser Leben verändern wird – so wie Google unser Leben längst verändert hat.

Dass hier demnächst ein Computer stehen würde mit einem Lautsprecher, habe ich natürlich nicht ernst gemeint. Ich vermute auch, dass uns allen diese Vorstellung unheimlich wäre. Gerade an Weihnachten. Denn zu Weihnachten geht es doch um persönliche Begegnung. In den Corona-Jahren haben wir doch erlebt, wieviel uns fehlt, wenn die persönliche, leibliche Begegnung nicht möglich ist. Gerade zu Weihnachten sind die Begegnungen wichtig. Dass die Kinder nach Hause kommen, dass wir mit der alten Generation zusammen sind, dass Familien und Freude beieinander sind, auch dass wir gemeinsam Gottesdienst feiern, singen, die Atmosphäre der geschmückten Kirche erleben. Diese Gemeinschaft ist es doch, die uns anrührt, die Freude macht. Das kann kein Computerprogramm ersetzen.

Diese Fragen zu verstehen, dazu hilft in den letzten Jahren sehr die Soziologie. Der Soziologieprofessor Hartmut Rosa aus Jena hat Bücher über „Resonanz“[2] geschrieben, darüber, dass unser menschliches Leben darauf angewiesen ist, dass wir in eine schwingende und atmende Beziehung mit der Welt um uns herum treten. Wo das gelingt, erleben wir das Leben als gut und sinnvoll, wo nicht, als öde und leer.

Hartmut Rosa weist darauf hin, dass gerade Weihnachten ein großes Resonanzversprechen sei. Zugleich sei das auch gefährlich, denn dass Resonanz entsteht, das lässt sich nicht planen, nicht herstellen, nicht durch teure Geschenke und nicht durch die stilvollste Vorbereitung des Festes. Ich kann dutzende Geschenke bekommen, auch wertvolle, aber sie lassen mich ziemlich kalt. Aber das eine rührt mich an, etwa weil ich die Liebe dahinter spüre. Rosa sagt: „An Heiligabend ist die Erwartung am höchsten, bis 17 Uhr sind wir meist im Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus, und dann wollen wir plötzlich und pünktlich ganz in Resonanz gehen mit der Familie, mit der Heiligen Familie und mit der Heiligen Botschaft noch dazu und, ehrlich gesagt, wissen alle: Nie ist die Entfremdung und das Konfliktpotenzial größer als genau zu diesem Zeitpunkt.“ Ich wünsche Ihnen sehr, dass Sie so etwas heute nicht erleben. Es hilft gewiss, die Erwartungen nicht zu hoch zu hängen und mit Gelassenheit und einigem Humor auch diesen Abend zu begehen.

Seit 2000 Jahren rührt Menschen die alte Geschichte von der Geburt Jesu an. Jahr für Jahr bringt sie etwas in uns zum Klingen. Was ist das? Einmal, glaube ich, ihr nüchterner Realismus. Eine Volkszählung – „dass alle Welt geschätzt würde“. Derselbe bürokratische Wahnsinn mit riesigem Aufwand wie heute. Und dann die sehr einfachen Verhältnisse. Ein junges Paar, dass sich auf den Weg gemacht hat. Schwanger, ohne ordentliches Quartier, eine Geburt in unsagbar primitiven Verhältnissen, wie es sie aber millionenfach auf dieser Welt gibt. Hirten, einfache Landarbeiter, als erste Zeugen. Nicht Hochglanz, sondern harter, schwieriger Alltag. Genauso rührt uns die Geschichte an. Und dann ein Neugeborenes. Dieser Aura, diesem Zauber eines kleinen Kindes kann man sich kaum entziehen. Einem Säugling zu begegnen, löst bei mir immer besondere Gefühle aus.

Dann aber auch: Das Wunder, dass diese Geburt anders als alle anderen ist. Da leuchtet ein besonderer Stern darüber. Da kommen Engel und bringen eine ganz neue Deutung: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr“. Mit diesem Kind kommt Gott selbst ins Spiel. Und dadurch werden neue Gefühle aufgerufen: „Ich verkündige euch große Freude“. Und weil das alles andere als selbstverständlich ist, dazu noch die andere Zusage: „Fürchtet euch nicht“. Das ist die Resonanz, auf die Weihnachten bei uns zielt: Dass wir befreit werden von den Ängsten um uns selbst. Und dass darüber eine neue Freude, eine große Freude entstehen kann. Weihnachten bringt eine neue, eine göttliche Resonanzachse in unsere Welt hinein.

Hartmut Rosa, der Soziologe, sagt: Religion gibt „eine Art vertikales Resonanzversprechen: Am Grund meiner Existenz liegt nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung: … Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“

Ja, natürlich in diesem Jahr ist Weihnachten überschattet von der Zeitenwende, das wonach ich das Computerprogramm gefragt hatte. Der Ausdruck ist zum „Wort des Jahres 2022“ ernannt worden. Es besteht kein Zweifel, der 24. Februar hat sehr viel nachhaltig verändert. Für die Menschen in der Ukraine zu allererst, für die Millionen, die flüchten mussten. Und für uns auch, politisch, militärisch, wirtschaftlich - und vor allem auch in den Seelen der Menschen. All das liegt wie ein Schatten auch über diesem Weihnachtsfest. Niemand weiß, was noch auf uns zukommt. All das kennen Sie, ich muss es nicht weiter ausbreiten.

Aber in angespannten Zeiten haben Menschen schon immer die Weihnachtsbotschaft besonders gehört, hat sie bei ihnen besondere Resonanz ausgelöst, hat besonders getröstet, besonders Mut gemacht. „Fürchtet euch nicht!“ Jahr für Jahr erinnern wir an die eine Zeitenwende mit der Geburt Jesu, von der wir bis heute unsere Jahre zählen. Jahr für Jahr erinnert dieses Fest daran, dass Gott diese Welt nicht sich selbst überlässt und schon gar nicht den selbsternannten Herrschern, sondern dass Gott Herr der Welt ist. Und dass er diese Herrschaft so ausübt, dass er ein Kind wird. Gott übt Mitmenschlichkeit und ermutigt so uns zur Mitmenschlichkeit.

Ob uns diese Botschaft auch in diesem Jahr innerlich erreichen kann? Damit so etwas wie Resonanz entstehen kann, damit ich angerührt werden kann, ist es nötig, dass ich mich empfänglich mache. „Es braucht ein Sich-nackt-Machen, man muss sich berührbar machen, und das heißt immer auch, sich verletzlich machen. Und das ist natürlich super-riskant...“ (Rosa) Ob wir uns so öffnen können für die Botschaft von Weihnachten? Das Geheimnis von Weihnachten ist ja: Genau das hat Gott getan. Gott hat sich nackt gemacht, Gott hat sich verletzlich gemacht, wird ein kleines Kind. Super riskant. Aber gerade so kann das Geheimnis von Weihnachten uns anrühren, trösten, uns innerlich bewegen.

Und genau so kann Weihnachten uns verwandeln. Wo Resonanz entsteht, werden Menschen verwandelt. Wo Menschen durch die Weihnachtsbotschaft innerlich angerührt werden, da werden sie sich von Gottes Menschenliebe anstecken lassen und selbst Liebe praktizieren, wo immer möglich, im Alltag, durch praktisches Handeln, durch finanzielle Hilfe. Eine Resonanz von Weihnachten ist auf jeden Fall, dass nicht innere Abschottung, sondern Solidarität und Nächstenliebe Raum greifen. 

Dass solche Resonanz entsteht, dass kann einstweilen noch kein Computer, und ich hoffe eigentlich, dass das auch so bleibt. Es braucht Begegnung von Menschen, die lieben, verzeihen, verletzlich sind. Als ein solcher Mensch begegnet uns Gott selbst an diesem Abend.
Ich wünsche Ihnen gesegnete Weihnachten.

Amen.  

[1] https://chat.openai.com/chat

[2] Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 32016; Hartmut Rosa, Demokratie braucht Religion, München 2022 (aus diesem Büchlein stammen die Zitate).

Das Licht scheint in der Finsternis

Vor wenigen Tagen ist im ukrainischen Charkiw das Friedenslicht aus Bethlehem angekommen. Pfadfinder haben es per Zug dorthin gebracht. Die Bilder aus der Ukraine haben mich angerührt. Eine Kerze und ein paar Tannenzweige im eiskalten Bahnhof, mitten im Luftalarm. Das Friedenslicht als Zeichen der Hoffnung in einem Land, das Putins Russland vorsätzlich und völkerrechtswidrig ins Dunkel gestürzt hat. In dem gezielt die zivile Infrastruktur beschossen wird, damit die Menschen im Kalten und im Dunklen sitzen. Kaum zu ertragen das alles. Aber auch hier scheint das Licht von Weihnachten. Und hier vielleicht besonders. Das heute-journal zeigte, wie Menschen für sich Kerzen am Friedenslicht aus Bethlehem entzünden.

„Das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat’s nicht ergriffen“. So erzählt der Evangelist Johannes vom Kommen Jesu in die Welt. Ganz realistisch. Die Welt kann finster sein und auch bleiben. Auch in mir herrscht manchmal das Dunkel.

Aber so wie Gott am Beginn der Welt das Licht geschaffen hat und das Leben damit seinen Anfang nahm, so ist es mit der Geburt Jesu. An Weihnachten feiern wir einen Neuanfang. Und das in den Tagen, an denen es am längsten dunkel ist. Wir feiern, dass mit der Geburt Jesu ein neues Licht, das Licht Gottes in die Welt gekommen ist. Und dass die Finsternis diese Kraft, dieses Licht nicht überwinden kann.

Licht scheint in der Finsternis. Das ist Weihnachten. Nicht immer ist das Licht strahlend und hell. Manchmal scheint es nur durch einen schmalen Riss in unsere Welt. „Gott ist nicht überall. Er verbirgt sich hinter allem, und in allem sind schmale Spalten, durch die er scheint – scheint und blitzt. Ganz dünne, feine Spalten, so dünn, dass man sie nie wiederfindet, wenn man nur einmal den Kopf wendet." So hat Ernst Barlach seine Erfahrung mit dem Licht Gottes beschrieben, der Künstler, der in der NS-Zeit verfemt war.

Durch die schmalen Spalten blitzt und scheint das Licht Gottes. So wie die Futterkrippe im Stall von Bethlehem ja auch ein höchst ungewöhnlicher Ort ist für die Geburt des Gottessohnes, auch nur so ein schmaler Spalt. Aber gerade so wird deutlich: Hier wird eine Hoffnung begründet, die das Dunkel erhellt. Ein Grund, in den Dunkelheiten dieser Welt und meines Lebens niemals mutlos zu werden. Und ein Grund, immer wieder selbst Licht weiterzugeben und in Solidarität und Nächstenliebe für Menschen im Dunkel einzustehen.

Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes und lichtes Weihnachtsfest!

Ihr
Dr. Hans Christian Brandy
Regionalbischof im Sprengel Stade

22. November 2022, Offenbarung 3, 14-22

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Für die Predigt schaue ich schon einmal nach vorn, auf den Predigttext für den kommenden 1. Advent. Es ist eines der Sendschreiben aus der Offenbarung des Johannes.

Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: 15 Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach dass du kalt oder warm wärest! 16 Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. 17 Du sprichst: Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts! und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß. 18 Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest. 19 Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße! 20 Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir. 21 Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron. 22 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!

Liebe Gemeinde,

„Du bist zum Kotzen.“ Einen Workshop in kirchenleitender Sprache hat der Verfasser der Johannesoffenbarung erkennbar nicht gemacht. Sonst hätte er gesagt: „Ich bin irritiert darüber, dass Du manchmal etwas unklar bist.“ Oder auch: „Ich würde mir wünschen, dass Du etwas deutlicher kalt oder warm erkennbar bist.“

Aber nein: Du bist lau und weder kalt noch warm, ich werde dich ausspeien aus meinem Munde. Wörtlich steht da im Griechischen. „Du bist zum Kotzen.“ Schöne Bescherung, so zum Synodenauftakt nach dem Mittagessen.

Was fangen wir damit an? Warm und kalt wäre gut, lau ist schlecht. Das erinnert an das, was Herbert Wehner mal geringschätzig über Willy Brandt gesagt hat. „Der Herr badet gern lau.“ Was fangen wir an damit, in unserer hannoverschen Kirche, die doch bekannt ist für ihr mildes Luthertum. Immerhin nannte Gerhard Uhlhorn, von dem das Wort stammt, das Klima in unserer Kirche als „ein bestimmtes und klares, aber mildes und jedem Extrem abholdes Luthertum". Mild ist dann doch hoffentlich etwas anderes als lau, nämlich „bestimmt und klar“.

Laodicea ist damals eine große und wohlhabende Stadt. Eine Stadt der Banken und Handelshäuser, reich und bedeutend, so wie heute Frankfurt oder Zürich. Die Textilherstellung ist berühmt, medizinisch ist man ganz vorn, besonders die Augenheilkunde ist auf hohem Niveau. Man ist wer, und man weiß das. Als die Stadt im Jahr 61 durch ein Erdbeben schwer beschädigt wird, bietet Rom Hilfe an. Aber man lehnt ab: Man komme schon allein zu recht. Und Laodicea schafft es auch.

Die christliche Gemeinde dort hat ganz Anteil am Selbstbewusstsein der Stadt. Sie halten sich für eine gute und lebendige Gemeinde. Und die kriegen vom Verfasser der Johannes-Apokalypse aber mal so richtig einen eingeschenkt. Von allen sieben Rundschreiben an Gemeinden ist es deutlich das Kritischste. Du sprichst: Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts! und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß. Euer Christentum ist zum Kotzen. Ihr laviert herum zwischen Christus und Kaiserkult, lau, lasch. Ihr habt es zu etwas gebracht, aber ihr habt Gott vergessen. Ihr seid stolz auf eure Textilindustrie. Aber schaut euch an, ihr seid in Wahrheit nackt, lasst euch doch endlich von Christus weiße Kleider anziehen. Ihr seid stolz auf eure Augenheilkunde. Aber ihr seid in Wahrheit blind, lasst euch im Glauben Augensalbe schenken, die euch wirklich Gott und den Nächsten sehen lässt.

Eine harte Bußpredigt: So sei nun eifrig und tue Buße! Bei der Perikopenrevision ist dieser Predigttext vom Buß- und Bettag zum 1. Advent gewandert. Harte Christentumskritik: Christentum zum Ausspeien.

Ist uns das fremd? Leider wohl nicht. Nur nicht aus der Bibel, sondern aus der Zeitung. Aus den Diskussionen dieser Tage. Auch wenn es weh tut, das so hart zu formulieren. Es gibt derzeit nicht so wenige Menschen, die finden christliche Kirche zum Kotzen. Die Missbrauchsskandale sind schrecklich und Konfessionsunterschiede ändern daran gar nichts. Die Austritte sind auf Rekordniveau, der Mitgliederschwund auch. Auch sonst sind die Zeiten nicht leicht. Die Nachfrage nach den vertrauten christlichen Amtshandlungen ist stark zurückgegangen, das Mitfeiern bei normalen Gottesdiensten nach Corona auch nochmal. Die Zahl derer, die das Theologiestudium beginnen, ist im zweiten Jahr in Folge erschreckend niedrig.

Christentumskritik in Laodicea. Ich befürchte, unsere Kirche kann sich da erschreckend gut reindenken. Vielleicht mit einem Unterschied. Damals hielt die Gemeinde sich offenbar für ziemlich klasse. Deutliche Selbstüberschätzung. Ein überhöhtes Selbstbild. Ist das unser Problem? Das nun vielleicht eher nicht. Ich erlebe viele, die doch ziemlich kleinmütig sind oder müde. Die Unerfreulichkeiten, die ich eben aufgezählt habe, gehen ja nicht spurlos an uns Leuten in der Kirche vorbei. Das schlägt schon manchmal aufs Gemüt, ja, das wird auch zur geistlichen Anfechtung. Wir geben uns doch alle redlich Mühe – und sehen scheinbar so wenig Früchte – so sehr es die auch gibt.

Nein, Selbstüberschätzung ist es eher nicht. Vielleicht ist unser Problem mehr, dass wir in unserem Apparat so weitermachen, als sei doch alles ziemlich in Ordnung. Wir befassen uns mit dem, was halt dran ist, das gilt für meinen Terminkalender ebenso wie für unsere Routine-Sitzungen wie für die Tagesordnung der Landessynode. Business as usual – was sollen wir denn auch machen? Aber kann es sein, dass wir an unseren Kleidern ein bisschen herumzuppeln und ein paar Flecken entfernen, und wir merken gar nicht, dass wir für manche schlicht nackt sind? Sorry, aber wenn man Offenbarung 3 ernst nimmt, kommt man an harten Fragen nicht vorbei. Der verstorbene Soziologe Ulrich Beck (der mit der Risikogesellschaft) hat in einem nachgelassenen Buch „Die Metamorphose der Welt“ dargelegt, dass Institutionen in Übergangsituationen ein spezifisches Problem haben: Sie funktionieren hervorragend in ihrem gewohnten Setting, in ihrem alten Bezugsrahmen. Aber sie sind nicht mehr tauglich, wenn es um grundlegend neue Veränderungen geht. Da versagen sie schlicht. Es sei typisch für Institutionen in Metamorphosen, dass sie gleichzeitig funktionieren und versagen. Kann es sein, dass unsere Kirchen an genau diesem Problem Anteil haben, sofern sie noch wie Institutionen funktionieren - und nicht längst schon auf andere Weise, als Organisation oder auch als Bewegung? An diesen Stellen müssten wir uns dann auch sagen lassen: Du sprichst: Ich bin reich und habe einen ganz ordentlichen Haushalt und die Tagesordnungen meiner Sitzungen sind gut gefüllt, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist.

Am meisten im Ohr geblieben ist mir das Wort: Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.

Das ist die große Zusage an die bedrängte und angefochtene und oft auch so wenig überzeugende Gemeinde und Kirche. Ich stehe vor der Tür und klopfe an und will Gemeinschaft mit dir. Gerade in deiner Schwäche. Da steht kein Richter, keiner der die Schwächen unbarmherzig vorführt. Sondern da steht Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, Gottes Liebe in Person. Er will herein zu uns.

Das ist für mich das Evangelium, die frohe, ermutigende Botschaft in diesem sonst harten biblischen Wort und in dieser nicht so leichten Situation für unsere Kirche. Christus klopft an und möchte Gemeinschaft mit uns. Wir feiern sie gleich im Abendmahl. Er klopft gerade bei der Gemeinde an, der vorher so kräftig der Kopf gewaschen worden ist. Mieser Zustand ist nichts, auf dem man sich ausruhen soll, aber es ist schon lange kein Grund, dass Christus nicht anklopft. Ganz im Gegenteil.

Wir machen uns derzeit viele Gedanken über die Zukunft. Wir wissen, dass große Metamorphosen anstehen, und wir wollen von weither dafür Ideen einsammeln – die Beteiligungsplattform ist geöffnet. Ich bin sehr gespannt darauf. Es wäre zu banal zu fragen: Wie kommt Christus selbst eigentlich auf die Plattform, wie soll er sich registrieren, wenn er anklopft, wo ist seine Kachel? Das ist zu simpel. Ich glaube, es macht viel mehr Sinn, dass wir bei allen Inspirationen und Werkräumen und KonKreationen immer die Frage mitführen: Durch welche dieser Ideen, auf welche Weise klopft Christus an? Wie kann er neu Raum gewinnen? Wie kann er durch alle Ideen aufs Neue in unsere Kirche hineinkommen und neu zu den Menschen? Wenn das gelingt, dass im Zukunftsprozess Christus anklopft und wir einige Punkte finden, wo wir neu „Herein“ rufen und ihm Raum schaffen, dann ist viel gewonnen.

Der tschechische Priester und Theologe Tomáš Halík hat während der Corona-Zeit an ein Wort erinnert, das Papst Franziskus am Vorabend seiner Wahl zum Papst gesprochen hat: Christus steht an der Tür und klopft an. Heute jedoch – fügte Kardinal Bergoglio hinzu – klopft Jesus von innen an die Kirchentür und will hinausgehen – und wir müssen ihm folgen. Tomáš Halík führt das weiter: „Ich verstehe dieses Bild als eine mutige Aufforderung, die bisherigen institutionellen und mentalen Grenzen des Christentums zu überschreiten, aus dem christlichen Glauben einen wirklichen Sauerteig der Welt zu machen, eine geistliche Lebenskraft der Globalisierung, ein universales Angebot und eine inspirierende Vision. Ist das gegenwärtige Christentum bereit, diesen Schritt zu tun, hat es dazu genug Mut und Vitalität?“

Ja, das ist eine große Frage, wie wir mit unserer Botschaft aufs Neue zu den Menschen kommen, in den Sozialraum, ins Gemeinwesen. Ich finde gut, dass wir das zurzeit so stark bedenken. Es ist doch ein starkes Bild dafür: Christus klopft an die Kirchentür und will hinausgehen. Gehen wir mit!

Und doch, ein wenig Vorsicht empfinde ich auch. Christus will raus? Bin ich mir denn so sicher, dass er schon drin ist? Könnte das nicht gerade unsere Versuchung sein, unsere Fehleinschätzung à la Laodicea, dass wir uns zu sicher sind, dass Christus immer schon drin ist? Klar: Wir machen doch seit 2000 Jahren nichts Anderes und seit 1517 allemal. Aber kann es nicht auch sein, dass Christus längst nicht mehr so selbstverständlich drin ist in allem geschäftigen Treiben? Ich entdecke bei mir immer wieder Räume, wo er schon länger nicht mehr war, und Worte, in denen er zu wenig eine Rolle spielt. Und ich entdecke das in unserer Kirche auch sonst.

Christus steht vor der Tür und möchte herein. Und er klopft sogar. Wer klopft, der will nicht überrumpeln. Wer klopft, der will nicht beschämen und jemanden in ungünstiger Situation erwischen. Wer klopft, der bittet um Einlass. Christus bittet. Und wer klopft, wartet auf Antwort. Lasst uns diese Adventszeit aufs Neue als eine Zeit der Antwort nutzen. Und diese Tage der Synode auch.

Amen.

Predigt über Lukas 18,1-8
Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr, 13.11.2022

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

Volkstrauertag. Ich erinnere mich, wie ich 1989 als junger Vikar erstmals an einem Mahnmal in Hildesheim dazu reden durfte. Damals war es gut 40 Jahre nach dem Ende des II. Weltkriegs. Da waren noch Menschen dabei, die aus eigener Erinnerung und in eigenem Schmerz um Angehörige trauerten. Das hat mich damals sehr bewegt.

Im Lauf der Jahre hat der Volkstrauertag gewiss nicht an Bedeutung verloren, aber das Gedenken wurde doch mehr ritualisiert, mit immer weniger persönlichen Erinnerungen und Emotionen, inzwischen mehr als 75 Jahre nach Ende dieses Krieges.

Volkstrauertag 2022 – ich empfinde ihn anders. Wir leben in Zeiten des Krieges. Nicht in unserem Land, aber mitten in Europa. Wir sehen die Bilder, hören die Berichte, erleben die  eine Million nach Deutschland Geflüchteten, spüren die gewaltigen Folgen bei der Explosion der Preise. Ja, in diesem Jahr empfinde ich Trauer – Trauer um die ungezählten Menschen, die in diesem entsetzlichen, verbrecherischen Krieg ihr Leben lassen.

Volkstrauertag 2022. Ich selbst bin in diesem Jahr zum ersten Mal in meinem Leben in Auschwitz gewesen. Im Teil Auschwitz-Birkenau bin ich lange ganz allein über das riesige Gelände gegangen, gespenstisch stehen dort die alten Baracken, die Zäune, die Wachtürme. Die Aura des Ortes fasst einen hart an. Geradezu unwirklich, dass hier über eine Million Menschen von Deutschen ermordet wurde. Auch diese Bilder und Gefühle sind für mich an diesem Volkstrauertag wieder präsent.

Volkstrauertag 2022. Eine Mahnung, die Opfer von Krieg und Gewalt nicht zu vergessen. Eine Mahnung, für Frieden einzustehen und um Frieden zu ringen – eine Diskussion, die unsere Gesellschaft und besonders auch die Evangelische Kirche im Moment sehr bewegt. Eine Mahnung, heute für Menschen, die unter den Folgen von Krieg leiden, solidarisch und in Nächstenliebe einzustehen.

Der Bibeltext, der uns für diesen Volkstrauertag vorgegeben ist, bringt noch eine weitere Dimension ins Spiel. Die schwierige Frage: Was hat Gott mit all dem zu tun? Konkret verweist er uns auf das Beten. Jesus erzählt eine Gleichnisgeschichte darüber, „dass man allezeit beten und nicht nachlassen sollte.“ Ich will mich auf diese Spur einlassen und lese aus Lukas 18 nach der Basisbibel:

Jesus wollte den Jüngern deutlich machen, dass sie immer beten sollen, ohne darin nachzulassen. Deshalb erzählte er ihnen ein Gleichnis: »In einer Stadt lebte ein Richter. Der hatte keine Achtung vor Gott und nahm auf keinen Menschen Rücksicht. In der gleichen Stadt wohnte auch eine Witwe. Die kam immer wieder zu ihm und sagte: ›Verhilf mir zu meinem Recht gegenüber meinem Gegner.‹ Lange Zeit wollte sich der Richter nicht darum kümmern. Doch dann sagte er sich: ›Ich habe zwar keine Achtung vor Gott und ich nehme auf keinen Menschen Rücksicht. Aber diese Witwe ist mir lästig. Deshalb will ich ihr zu ihrem Recht verhelfen. Sonst verpasst sie mir am Ende noch einen Schlag ins Gesicht.‹«

Und der Herr fuhr fort: »Hört genau hin, was der ungerechte Richter hier sagt! Wird Gott dann nicht umso mehr denen zu ihrem Recht verhelfen, die er erwählt hat – und die Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? das sage ich euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen!«

Ganz schön riskant, was Jesus da macht. Er will zeigen: Hört nicht auf zu beten, haltet immer dran fest. Gott wird schon bald denen zu ihrem Recht verhelfen, die ihn darum bitten. Das ist eine gute und wichtige Zusage am Volkstrauertag. Gott wird zum Recht verhelfen.

Aber: Jesus nimmt als Beispiel dafür einen ungerechten Richter. Einen unangenehmen, korrupten Typen, der keinen Respekt vor Gott und den Menschen hat und macht, was er will. Ein Richter gnadenlos und rechtlos. Bei dem wird eine Witwe vorstellig, der Unrecht geschieht. Witwen sind damals völlig rechtlose Personen, ohne jede finanzielle und rechtliche Absicherung. Sie fordert Recht bei dem Richter, und der schert sich einen Dreck um sie. Aber die Witwe ist beharrlich. Sie wird immer und immer wieder vorstellig. „Verhilf mir zu meinem Recht gegenüber meinem Gegner.“ Das wird dem korrupten Richter irgendwann zu viel. Er sagt sich: „Oh Mann, die Alte nervt.“ Er hat Angst vor Imageverlust, wenn die Frau ihre Sache öffentlich macht. Und er hat Angst, dass sie ihm am Ende noch eine runterhaut und ihm ein blaues Auge verpasst. So erzählt das Jesus. Er ist überhaupt nicht zimperlich, wenn er einen Vergleich dafür braucht, dass wir mit dem Beten nicht aufhören sollen.

Jedenfalls, der schlimme Richter gibt schließlich nach. Also: Dranbleiben, lohnt sich. Weiter beten lohnt sich, auch wenn man erstmal keine Erhörung erlebt. Sollte Gott nicht Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er bei ihnen lange warten? Ich sage euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze.

Was machen wir jetzt damit? Was heißt das für das Beten?

O’Connell ist zu spät dran und sieht sich panisch nach einem Parkplatz um. Er wendet sein Gesicht zum Himmel und sagt: „Gott, hilf mir: Wenn Du mir einen Parkplatz verschaffst, werde ich für den Rest meines Lebens jede Woche zur Kirche gehen und aufhören, irischen Whiskey zu trinken.“ Genau in diesem Augenblick fährt jemand überraschend aus einer Parklücke genau vor ihm heraus. O’Connell blickt sofort zum Himmel und sagt zu Gott: „Ah, gib dir keine Mühe, ich habe schon einen Parkplatz gefunden.“

Wie ist das mit dem Beten? Ob der Parkplatz ohne das Stoßgebet auch frei geworden wäre – wer weiß? Ob ein Ereignis eine Gebetserhörung war, ob es auch ohne Gebet eingetreten wäre – das wird man nie genau wissen. Das ist ein Problem, wenn man über das Beten nachdenkt. Ein anderes ist viel gravierender: Wenn ein Gebet nicht erhört wird, das kann man oft klar erkennen. Wenn ich um Heilung bete, und sie tritt nicht ein: Das ist eindeutig, das wird rasch zur tiefen geistlichen Anfechtung. Wir bitten um Frieden – und er trifft nicht ein. Warum hilft Gott nicht? Wenn man darüber nachdenkt, stößt man schnell auf schwer verdauliche Fragen: Braucht Gott unsere Fürbitte? Tut er Gutes nur, wenn wir ihn bitten? Greift er durch unser Gebet in natürliche Abläufe ein, die sonst anders verlaufen wären? Und vor allem natürlich: Warum erhört Gott oft unsere Fürbitten auch nicht? Man steht beim Nachdenken über das Bittgebet schnell vor denselben Ausweglosigkeiten wie bei der (unbeantwortbaren) Frage: „Wie kann ein gerechter, gütiger und allmächtiger Gott Leid und Elend zulassen?“, bei der Frage also nach der Gerechtigkeit Gottes, der sogenannten Theodizeefrage. Wenn man am Volkstrauertag über Gott nachdenkt, kommt man an dieser Frage nicht vorbei.

Spitzt man es so zu, kann sich schnell der Gedanke ergeben, dass Bitten an Gott entweder überflüssig oder sinnlos sind. Wenn Gott gut, gerecht und mächtig ist: Warum muss man ihn dann erst bitten? Wenn er aber entweder machtlos oder aber böse ist, dann bringt das Beten auch nichts. Berühmt ist auch die pointierte Ablehnung des Betens durch Immanuel Kant: „Das Beten… ist ein abergläubischer Wahn…; Dass ein Mensch mit sich selbst laut redend betroffen wird, bringt ihn vor der Hand in den Verdacht, dass er eine kleine Anwandlung von Wahnsinn habe…“

Ein Bittgebet, dass auf Veränderung des Ganges der Welt und Erfüllung unserer Wünsche zielt, lehnen daher auch manche großen Theologen ab. Das Gebet könne nicht den Sinn haben, auf Gott einzuwirken, um ihn zu veranlassen, etwas anderes zu tun, als er ohnehin tut. (Wilfried Härle). Das Gebet könne nicht das Ziel haben, etwas an den tatsächlichen Umständen zu ändern. Das Gebet zielt dann vielmehr darauf, dass es den Beter innerlich verändert, Kraft und neuen Mut verleiht. Es kommt – pointiert gesagt – in die Nähe einer Meditation, einer Selbstbesinnung. So wird das Gebet in der Neuzeit oft verstanden. Gebet ist etwas, das für mich wichtig ist, dass mir guttut. Und das ist ja auch richtig und wichtig. Genauso, wie es richtig und wichtig ist, dass zum Beten auch das Tun gehört, mein aktives Handeln. Wer für andere betet, der wird sich für andere einsetzen, der wird auch anpacken. Von dem Theologen Karl Barth stammt das Wort: „Hände zum Gebet falten ist der Anfang eines Aufstandes gegen die Unordnung der Welt.“

Aber das ist nicht alles. Die Bibel jedenfalls ist da ganz klar: Unser Gebet darf auf Änderung hoffen. Die Bibel erzählt in allen ihren Teilen davon, dass Gott sich berühren und bewegen lässt durch das Gebet des Menschen, viele Beispiele gibt es dafür, bei Abraham, der für das verkommene Sodom betet, bei Mose oder beim Propheten Amos, die für das Volk Israel beten. Immer lässt sich Gott bewegen zu Reaktion und Veränderung. In der Bergpredigt schließlich ist das Wort Jesu klar: „Bittet, so wird euch gegeben.“ (Mt 7,7). Und genau dazu passt unsere Geschichte von der nervenden Witwe: Hört nicht auf zu beten, Gott wird euch zu eurem Recht verhelfen.

Der Gott der Bibel lässt sich von unserem menschlichen Elend bewegen, am tiefsten im Kommen Jesu Christi selbst. Natürlich wird daraus keine Verfügbarkeit Gottes, ich kann aus dem Gebet keine Wirkungen einfach „ableiten“. Im Gebet begegne ich dem „Du“ Gottes, ich berge mich in ihm. Es geht um die Beziehung zu einer Person, zu diesem Du, nicht um Ursache und Wirkung. Die Frage, warum Gott Gebete aus unserer Sicht auch nicht erhört, bleibt unbeantwortbar, so wie die Frage, warum Gott Leid und Unrecht zulässt. Wenn ich bete, vertraue ich mich gleichwohl Gott an und vertraue – in aller Anfechtung – darauf, dass hinter aller Undurchschaubarkeit der Geschichte das „Du“ des liebenden Gottes steht. Dietrich Bonhoeffer hat das im Gefängnis in die berühmten Worte gefasst: „Nicht alle unsere Wünsche, aber alle seine Verheißungen erfüllt Gott.“ Über alle Erfüllung hinaus vertraue ich mich Gott an und bin in ihm geborgen, wenn ich bete.

Ich schließe mit einer Geschichte, die für mich in letzter Zuspitzung die nicht auflösbare Spannung von der denkerischen Klärung des Gebets und einer Haltung der Frömmigkeit im Gebet deutlich macht. Sie stammt von Elie Wiesel, dem Friedensnobelpreisträger, der dem Tod im KZ nur knapp entronnen ist: Wiesel traf im Konzentrationslager einen Talmud-Lehrer. Sie studierten während der Arbeit Talmud und Midrasch, die jüdische Überlieferung, aus dem Gedächtnis. Eines Nachts rief der ältere Lehrer den jungen Wiesel und zwei weitere Rabbiner an sein Bett. So trafen sie sich nachts mitten in diesem Lager. Sie beriefen ein rabbinisches Tribunal ein und „beschlossen, Gott anzuklagen, in angemessener, korrekter Form, wie es ein richtiges rabbinisches Tribunal tun soll, mit Zeugen und Argumenten“. Jüdisch – so Wiesel – sei das möglich, Gott anzuklagen. Sie hielten ihm das entsetzliche Leiden der jüdischen Menschen vor, denen Gott nicht half. „Die Verhandlungen zogen sich lange hin. Und schließlich verkündete mein Lehrer, der Vorsitzender des Tribunals war, das Urteil: Schuldig. Und dann herrschte Schweigen – ein ... endloses, ewiges Schweigen. Aber schließlich sagte mein Lehrer, der Rabbi: Und nun, meine Freunde, lasst uns gehen und beten. Und wir beteten zu Gott, der gerade wenige Minuten vorher von seinen Kindern für schuldig erklärt worden war.“

Amen.

Psalm 46: Eine feste Burg

Stade, 31. Oktober 2022, St. Cosmae-Kirche

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

„Eine feste Burg ist unser Gott.“ Das Motto dieses Tages, das Lied dieses Tages, das Lied des Reformationstages. Die Kantorei wird das Lied im Anschluss singen. Gedichtet hat es Martin Luther nach dem 46. Psalm, und der ist uns heute als Predigttext vorgeben. Wir haben den 46. Psalm schon als Collage gehört. Ich lese uns einige Verse noch einmal:

Gott ist unsre Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken, wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen. Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind. … Der HERR Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz. Kommt her und schauet die Werke des HERRN, der auf Erden solch ein Zerstören anrichtet, der den Kriegen ein Ende macht in aller Welt, der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt …  Der HERR Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz. (Ps 46,2-12 in Auszügen)

Starke Bilder sind das in diesem Psalm. Das Meer wütet und tobt. Die Berge sinken ins Meer. Krieg bestimmt die Welt. Ja, die Welt geht unter.

Starke Bilder, zu denen uns erschreckend viele Parallelen in der Gegenwart einfallen. Wütendes und tobendes Wasser – ich sehe die Bilder aus dem Ahrtal und weiß, dass wir noch viele solche Bilder sehen werden und höre die schlimmen Prognosen der Klimaforscher, die von Zerstörung der Erde reden, wenn wir nicht schnell gegensteuern. Und dann die Bilder von Krieg und Kriegsgerät und Feuer – das sehen wir zu unserem Entsetzen tagtäglich aus der Ukraine.

Starke Bilder. Starke, negative Bilder. Starke Gegenbilder aber auch. Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind. Ein sicherer Wohnort bei Gott, wo fröhliches Leben möglich ist. Und die Hoffnung, dass am Ende Gott allem Krieg ein Ende macht: Er macht den Kriegen ein Ende in aller Welt, er zerbricht Bogen, zerschlägt Speere und verbrennt Streitwagen mit Feuer. Keine Gegenwartsbeschreibung, aber ein Hoffnungsbild. Wir brauchen solche Bilder, wir brauchen Gegenbilder gegen das, was belastet und die Seele herunterzieht, gegen – so der Psalm – gegen die großen Nöte, die uns getroffen haben.

Solche Bilder haben Martin Luther zu seinem Lied inspiriert: „Ein feste Burg ist unser Gott“. Er hat es veröffentlicht als Lied zu Psalm 46, so steht es auch als Überschrift über dem Psalm in der Lutherbibel, aber überraschenderweise kommt die „feste Burg“ darin so ausdrücklich gar nicht vor. Luther hat die Vertrauensaussagen des Psalms in die Bilder gefasst, die ihm vor Augen standen. Und das war nicht zuletzt die Burg, die Wartburg, auf der er vor beinahe genau 500 Jahren in Sicherheit gebracht worden war, 1521/22, und wo er die Bibel übersetzte. Diese Burg wird ihm im Lesen des Psalms zu einem Bild des Schutzes durch Gott: Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.

Das Lied hat dann seinen eigenen Weg genommen. Es hat ungezählte Menschen getröstet und gestärkt, es ist zu einem „Identitätsmarker“ geworden. Die lutherischen Christen in Ungarn etwa begrüßen sich bis heute auf ungarisch mit den Worten „Ein feste Burg ist unser Gott“. Aber das Lied ist auch ziemlich martialisch verstanden worden. Man hat es als „Kampflied“ der Reformation bezeichnet, als „Triumphmarsch“, ja als „Marseillaise“ der Reformation, oder gar als „Kriegslied des Glaubens“. Und natürlich war es dann auch ein antikatholisches Kampflied. Ich bin sehr dankbar, dass das überwunden ist und wir gemeinsam als christliche Kirchen die Reformation als Christusfest feiern und auch gemeinsam von unserem Gott singen, der eine feste Burg für uns ist.

Ich habe für diesen Reformationstag in Zeiten von Corona- und Russland- und Energiekrise einiges darüber gelesen, wie Martin Luther mit Krisen umging: Wie hat er sie für sich selbst bearbeitet, wie hat er als Seelsorger für Menschen in Krisen und Anfechtungen gewirkt?

Eine erste Antwort kann uns das Lied selbst geben. Eine feste Burg ist unser Gott. Das Lied ist veröffentlicht worden im Jahr 1529. Wir wissen nicht ganz genau, in welcher Lebenssituation. Aber Luther kann es gut etwas früher, 1527/28, gedichtet haben. Und das war für Luther eine Zeit tiefer Krisen. In Wittenberg grassierte die Pest, viele waren krank, auch seine schwangere Frau Käthe. Die kirchliche und politische Lage war höchst angespannt. Die Türken standen vor Wien, genau in dieser Zeit wird zum ersten Mal auch ein Anhänger der Reformation um seines evangelischen Glaubens willen getötet. Luther selbst war krank, nierenkrank, das alles ging ihm „an die Nieren“. Und er war tief niedergeschlagen, er litt an Depressionen. In Briefen aus diesen Tagen Ende 1527 kann man das bewegend nachlesen. An seinen Freund Agricola schreibt er: „Ich bitte, lasst nicht ab, mich zu trösten und für mich zu beten, ‚denn ich bin elend und arm‘. Der Satan wütet mit all seiner Macht gegen mich.“ Und an Nikolaus von Amstorf schreibt er: „Wie es dem Herrn gefällt, so geschieht es, mein lieber Amsdorf, dass ich, der ich bisher alle anderen zu trösten hatte, nun selbst allen Trostes bedürftig bin. In meinem Hause ist allmählich ein Hospital entstanden [und dann nennt er all die Kranken]. So sind äußerlich Kämpfe, innerlich Ängste, und sehr bittere. Christus sucht uns heim. Ein Trost bleibt, den wir dem wütenden Satan entgegensetzen, dass wir wenigstens das Wort Gottes haben, um die Seelen der Gläubigen zu retten, wenn er auch die Leiber verschlingt. Darum befiehl uns den Brüdern und dir selbst, dass ihr für uns betet“

Ich finde es berührend, diese sehr offenen Worte über innere Not und Anfechtung zu lesen. Fremd ist uns, dass das Böse für Luther ohne jede Frage Wirken des Teufels ist, auch im Lied „Ein feste Burg“. Da ist Luther noch ganz Mensch des Mittelalters.

Aber wenn man weiß, in was für einer notvollen persönlichen Situation Luther ist, dann bekommt das Lied, das er dem 46. Psalm ablauscht einen ganz anderen Klang:

Ein feste Burg ist unser Gott,
ein gute Wehr und Waffen.
Er hilft uns frei aus aller Not,
die uns jetzt hat betroffen.

Auch wenn das Lied martialisch klingen mag, in Wahrheit ist es ein Trostlied gegen die Anfechtung, ein Ermutigungslied in der Krise.

Wenn ich frage: Was ist Luthers Rat und Luthers eigenes Bedürfnis in Krisen, so ist die Antwort sehr einfach. Einmal: Es ist das Gebet, das Gebet füreinander, das Gebet auch für unsere Welt. Und dann: Es ist sehr klar und einfach ein großes Gottvertrauen. Gerade in Krisen. Innerer Halt und innere Widerstandskraft kommen aus dem Vertrauen auf Gott:

Mit unsrer Macht ist nichts getan,
wir sind gar bald verloren;
es streit' für uns der rechte Mann,
den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist?
Er heißt Jesus Christ,
der Herr Zebaoth,
und ist kein andrer Gott,
das Feld muss er behalten.

Gottvertrauen hat bei Luther immer einen Namen. Es ist das Vertrauen auf den menschgewordenen Gott, auf Jesus Christus. Das ist ein sehr spannender Spitzensatz: Fragst du, wer der ist? [Der Mann, der helfen kann] Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth … Luther identifiziert den Gott des Alten Testamtes mit Jesus Christus. Der Allmächtige, der Herr der himmlischen Heerscharen, ist greifbar und nah in Christus, dem Gekreuzigten. Der hat selber auf Golgatha alle Qualen erlitten und sie an Ostern überwunden. Auf ihn hofft Luther in Krisen. Auf ihn schaut er. Christus ist für ihn immer wieder das Gegenbild gegen die negativen und schlechten Bilder. In einer Schrift über das Sterben hat er ausführlich davon gesprochen, dass wir im Sterben nicht auf den Tod schauen sollen, sondern nur auf Christus. In ihm sehen wir Gottes Leben und Gottes Liebe.

Wir sehen: Das Lied „Ein feste Burg“ ist im Ursprung kein Triumphlied. Von der Karriere als Kampf- und Trutzlied sollten wir uns nicht täuschen lassen. Diese Entwicklung kam erst viel später. Für Luther war es das Trostlied einer angefochtenen Seele. Vielleicht kann es uns darin nahekommen und uns ansprechen am Reformationstag 2022, bei einem Fest in schwierigen Zeiten. Vielleicht können wir es hören als ein Lied des Widerstandes gegen das, was uns zusetzt. Und das brauchen wir derzeit. Unser Bundespräsident hat in seiner Rede vor wenigen Tagen gesagt: „Wir brauchen Widerstandsgeist und Widerstandskraft.“  

Ich höre noch etwas auf Luther als Ratgeber in Krisen. Praktisch wird das, wenn Luther in Briefen Menschen gut zuspricht, die sich in Sorgen verzehren. Sorgen: Ein großes Thema in Krisen, damals wie heute. Ein Beispiel: Als das Augsburger Bekenntnis entsteht, 1530, darf Luther nicht mit zum Reichstag nach Augsburg, er steht ja unter der Reichsacht. Dort ist Luthers Schüler und Freund Melanchthon, der sich große Sorgen macht und in tiefen Ängsten ist. Ihm schreibt Luther: „Deine elenden Sorgen, von denen du verzehrt wirst, hasse ich von Herzen. Dass sie in deinem Herzen regieren, ist nicht der großen Sache, sondern unseres großen Unglaubens Schuld. Ich bete wahrlich mit Fleiß für Dich, und es tut mir weh, dass du unverbesserlicher Sorgenblutegel meine Gebete so vergeblich machst. Mächtig ist Gott, die Toten zu erwecken, mächtig ist er auch, seine Sache, wenn sie gleich fällt, zu erhalten, wenn sie gefallen ist, wieder aufzurichten, und wenn sie steht, fortzuführen. ... Wenn wir durch Gottes Verheißungen nicht aufgerichtet werden – ich beschwöre dich: wer anders ist denn auf der Welt, den sie sonst angehen sollten?"

Ein anderes Beispiel. Im Februar 1546, ganz kurz vor seinem Tod. Luther ist krank, lebensbedrohlich herzkrank. Aber er ist noch immer in aktiv, auf Reisen in seiner Geburtsstadt Eisleben, um Frieden zu stiften. Seine Frau macht sich natürlich größte Sorgen. Da schreibt er ihr, ermutigend, aber auch voller Humor und Ironie

„Der heiligen, besorgten Frau, Frau Katherin Lutherin, Gnad und Friede in Christo! Allerheiligste Frau Doktorin! Wir danken euch ganz freundlich für Eure große Sorge, vor der Ihr nicht schlafen könnt. Denn seit der Zeit, seit der Ihr für uns gesorgt habt, hätte uns beinahe das Feuer verzehrt in unserer Herberge, direkt vor meiner Stubentür. Und gestern, ohne Zweifel aus Kraft Eurer Sorge, wäre uns beinahe ein Stein in unserem heimlichen Gemache [die Toilette] auf den Kopf gefallen und hätte uns zerquetscht wie in einer Mausefalle. Der hatte im Sinn, Eurer heiligen Sorge zu danken, wenn die lieben Engel nicht gehütet hätten. … Dir ist nicht befohlen, für mich oder Dich zu sorgen. Es heißt im Psalm 55: 'Wirf dein Anliegen auf den Herrn, der sorget für dich'.“

Und in einem Brief an seine Frau wenige Tage später, der wieder das Vertrauen auf Jesus Christus in die Mitte stellt: „Du willst sorgen für Deinen Gott, gerade als wäre er nicht allmächtig, der da könnte zehn Doktor Martinus schaffen, wenn der einzige alte ersöffe in der Saale oder im Ofenloch. Laß mich zufrieden mit Deiner Sorge; ich habe einen besseren Sorger, denn Du und alle Engel sind, der liegt in der Krippen und hängt an einer Jungfrauen Zitzen, aber sitzet gleichwohl zur Rechten Hand Gottes des allmächtigen Vaters; Darum sei zufrieden, Amen.''

Immer und immer wieder verweist Luther in ungezählten Briefen Menschen in Krisen auf Christus, auf das Vertrauen in Gottes Liebe. Aber er macht das nicht nur steil und thetisch. Er buchstabiert das immer auch ganz lebenspraktisch durch und geht dabei durchaus empathisch auf die jeweilige Person ein. Und er kann in seiner Ermutigung in Krisen auch die Schönheit und Bedeutung der Schöpfung im Blick haben, das ist wunderbar menschlich und lebenspraktisch, etwa an Menschen, die mit Niedergeschlagenheit und Depression zu tun haben. So rät er einem jüngeren Fürsten, Joachim zu Anhalt, in seiner Schwermut möglichst fröhlich zu sein, zu reiten, zu jagen und sich um gute Gesellschaft zu bemühen: „Denn es ist doch ja die Einsamkeit oder Schwermut allen Menschen eitel Gift und Tod, besonders einem jungen Menschen. So hat auch Gott geboten, dass man solle fröhlich für ihn sein.“ Das alles ist für Luther unmittelbar Ausdruck der evangelischen Freiheit. Genuss der Schöpfung, des Essens, der Sexualität, das ist nicht mehr wie früher abgewertet.  Er schreibt: „Ist doch jetzt, Gott Lob, so viel Erkenntnis [des Evangeliums], dass wir mit gutem Gewissen können fröhlich sein und mit Danksagung seiner Gaben brauchen, dazu wie er sie geschaffen… hat.“

Einem anderen, Hieronymus Weller, schreibt er: „Sooft dich der Teufel mit diesen [schwermütigen] Gedanken plaget, suche sofort die Unterredung mit Menschen oder trinke etwas reichlicher oder treibe Scherze und Possen oder tue irgendetwas anders Heiteres. Man muss bisweilen mehr trinken, spielen, Kurzweil treiben, und hierbei sogar irgend eine Sünde riskieren, und dem Teufel Abscheu und Verachtung zeigen.“

Sehr lebenspraktische Ratschläge in der Krise. Such Dir Menschen. Und tu, was Dir guttut und was Dir Freude macht. Auch das ist nötig zur inneren Resilienz, für „Widerstandsgeist und Widerstandskraft.“ Sehr schön hat das die badische Landesbischöfin Heike Springhardt formuliert, die ermutigt, „hoffnungsstur und glaubensheiter“ zu sein in diesen Tagen.

Ein Letztes: Eins spielt in Luthers Ratschlägen eine besondere Rolle: Die Musik. Nichts hilft gegen Sorgen und Traurigkeit mehr als Singen und Musik. Ein Brief an den Hoforganisten Matthias Weller, von dem er weiß, dass er mit großer Traurigkeit und Depression zu tun hat: „Darum, wenn ihr traurig seid, und die Trauer will überhand nehmen, so sprecht: Auf! Ich muss meinem Herrn Christo ein Lied schlagen auf dem Regal (also auf der Orgel), denn die Schrift lehret mich, er höre gern fröhlichen Gesang und Saitenspiel. Greift frisch in die Tasten und singet drein, bis die Gedanken vergehen ... Kommt der Teufel wieder und gibt euch Eure Sorgen ein, so wehret euch frisch und sprecht: Aus Teufel, ich muss jetzt meinem Herrn Christus singen und spielen. Darum nichts besser, denn flugs ... dem Teufel auf die Schnauzen geschlagen ... also greift auch ihr in die Orgel, oder nehmet gute Gesellen und singet dafür, bis ihr lernet ihn spotten.“ Dem Teufel auf die Schnauzen zu schlagen, wenn er Sorgen und Angst eintreiben will. Den Kräften des Negativen und der Depression in getrosten Gottvertrauen entgegenzutreten, dazu trägt die Musik besonders bei. Sorgt für Euch für die richtige Musik in Krisenzeiten!

Darum nun genug der Worte, wir hören Gesang: „Ein feste Burg ist unser Gott.“

Amen.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Torfkähne bilden ab Mitte des 18. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts die einzigen Verkehrsmittel im Teufelsmoor. Unterwegs auf den vielen kleinen Wasserstraßen prägen sie mit ihren schwarzen Eichenholzbooten und den braunen Segeln das Landschaftsbild. Die Torfbauern staken, treideln und segeln mit ihrer Fracht oft mehrere Tage bis nach Bremen.

Sie sehen, liebe Gemeinde, ich habe mich vorbereitet. Und ich gestehe es: Ich bin zum ersten Mal im Leben auf einen Torfkahn – und das mit großer Freude. Vergleichbares habe ich nur in der Studentenstadt Tübingen erlebt, dort fährt man Stocherkahn. Das habe ich als Student einige Male gemacht. Und ich bin, wie ich mit Schrecken erinnere, einmal der Länge nach ins Wasser gefallen. Ich hoffe zuversichtlich, dass mir das heute nicht passiert.

Was ich nicht weiß: Was passiert in einem solchen Torfkahn, wenn Sturm kommt? Unsere Schiffer sind bestimmt einiges gewohnt – aber richtig lustig stelle ich mir das nicht vor. Wie gesagt, ich habe da schlechte Erfahrungen.

Was passiert, wenn Sturm kommt? Damit sind wir mitten im Thema. Wir waren es doch gewohnt, in unserem Land mit dem Kahn unseres Lebens relativ ruhig dahinzugleiten. Frieden, Sicherheit, ein gewisses Maß an Wohlstand – das schien selbstverständlich. Wer nicht älter als 70 ist, hat gesellschaftlich kaum anderes bei uns erlebt.

Ja, schon der Klimawandel hätte uns schon längst zeigen müssen, dass wir nicht so ruhig und idyllisch durchs Leben gleiten können, wie wir es gewohnt waren. Und schon lange haben wir im Wesentlichen verdrängt, dass Menschen in Schiffen, die diesem hier ganz ähnlich sind, regelmäßig auf dem Mittelmeer in Not geraten und ertrinken.

Aber jetzt, im Sommer 2022 sehen wir uns Stürmen entgegengestellt, wie wir sie kaum für möglich gehalten haben.

Mir fiel sofort eine biblische Geschichte ein. Ich gebe zu, originell ist die Idee nicht. Aber angesichts der stürmischen Zeitläufte scheint sie mir passend.

Und es begab sich an einem der Tage, dass er in ein Boot stieg mit seinen Jüngern; und er sprach zu ihnen: Lasst uns ans andere Ufer des Sees fahren. Und sie stießen vom Land ab. Und als sie fuhren, schlief er ein. Und es kam ein Windwirbel über den See und die Wellen überfielen sie, und sie waren in großer Gefahr. Da traten sie zu ihm und weckten ihn auf und sprachen: Meister, Meister, wir kommen um! Da stand er auf und bedrohte den Wind und die Wogen des Wassers, und sie legten sich und es ward eine Stille. Er sprach aber zu ihnen: Wo ist euer Glaube? Sie fürchteten sich aber und verwunderten sich und sprachen untereinander: Wer ist dieser, dass er auch dem Wind und dem Wasser gebietet und sie sind ihm gehorsam? Und sie fuhren weiter. Lukas 8, 22 -26

Drei Motive möchte ich besonders herausgreifen aus dieser Geschichte von Jesus:

1. Meister, wir kommen um: Nüchternheit
2. Er bedrohte den Wind: Gottvertrauen
3. Und sie fuhren weiter: Weiter Himmel – Zukunft gestalten

Die Geschichte beginnt als ganz alltägliche Szene. Jesus fährt mit der Gruppe seiner Getreuen über den See. Eine Alltagsfahrt, schon hundert Mal gemacht, an die andere Seite des Sees Genezareth. Ich bin vor drei Jahren auf einer großen Fahrradtour mit dem Rad um den See herumgefahren. Im Alltag ist es da schön und idyllisch, so wie heute bei uns.

Aber es kommt Sturm. Der See Genezareth ist um einiges breiter als die Hamme, hohe Wellen schlagen ins Boot. Es wird richtig gefährlich. Aber: Jesus schläft. Er ist müde. Aber er hat offenbar auch keine Angst. Das unterscheidet ihn von den anderen, die bekommen es mit der Angst zu tun, und das ist ja auch nachvollziehbar. Sie wecken Jesus: „Meister, wir kommen um“. Sie nennen die Gefahr nüchtern beim Namen.

Das ist mein erster Punkt. Nüchternheit. Es hilft nichts, darauf zu sehen, dass man doch hundert Mal problemlos über den See gekommen ist. Die Lage jetzt ist ernst und gefährlich. Sturm ist Sturm. Und leider müssen wir es nüchtern sehen: Pandemie ist Pandemie – und sie ist längst noch nicht vorbei. Und furchtbarerweise auch: Krieg ist Krieg. Mit all seinen schrecklichen Folgen. Vor allem natürlich für die Menschen in der Ukraine, die den Krieg aushalten und denen, die geflohen sind – inzwischen mit Abstand die größte Flüchtlingsgruppe auf der Welt. Gemessen an dem Sturm, der über sie hereingebrochen ist, ist das bei uns bisher nur ein kräftiger Wind. Aber natürlich: die Sicherheitsarchitektur, an die wir uns in Europa gewöhnt hatten, ist kaputt. Wir erleben drastische Preissteigerungen, die auch erstmal bleiben. Niemand kennt die Zukunft – aber es zeichnet sich deutlich ab: Den ziemlich ruhigen See, den wir lange gewohnt waren, bekommen wir nicht wieder. Das wird für uns alle noch gewaltig unbequem und vermutlich auch mehr. So etwas verdrängen Menschen gern. Aber das führt zu nichts. Es nüchtern anzunehmen und auszusprechen, das ist der erste Schritt.

Nur am Rande erwähne ich: Für uns in der Kirche gilt das genauso. Auch die großen Kirchen machen gerade ziemliche Stürme durch – ich denke nur an die negative Entwicklung der Mitgliederzahlen: Auch wir bekommen den ruhigen See nicht zurück, unsere Kirche wird sich grundlegend ändern. Auch da ist Nüchternheit gefragt.

Zurück zur Geschichte. Die Jünger wecken in ihrer Angst in dem Sturm Jesus auf. Und Jesus bedroht die Wellen. Der Sturm legt sich. Jesus macht ihm ein Ende. Es entsteht eine große Stille.

Diese Geschichte wurde erzählt, um zu zeigen, welche Macht Jesus hat: In ihm, in Jesus ist Gott auf der Erde. Er hat Macht über den Sturm, Macht über die kosmischen Mächte. Jesus hat Macht über alle zerstörerischen Kräfte, alles, was das Leben beschädigen will. Die Jünger sind nicht allein auf dem Boot.

So möchte ich es auch für mich glauben und uns zusprechen. Wir sind nicht allein auf dem Boot. Wir sind nicht allein im Sturm. Zur Nüchternheit gehört für mich daher als zweites ein großes Gottvertrauen. Wir sind nicht allein, da ist einer, der Macht hat an unserer Seite. Selbst wenn das oft nicht unmittelbar zu spüren ist, wenn die Stürme nicht gleich verschwinden. Wir sind nicht allein in all dem, was da noch auf uns zukommt.

Leicht zu verstehen ist das nicht. Aber es weckt doch eine tiefe Hoffnung. Vielleicht so, wie Hölderlin es formuliert hat: "Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch."

Oder wie es von dem Theologen Karl Barth erzählt wird, dem größten Theologen des letzten Jahrhunderts. Kurz vor seinem Tod führte er ein letztes Telefongespräch mit einem alten Freund. Sie sprechen über die auch damals sehr angespannte Weltlage, 1968 war das. Sie machen sich große Sorgen. Und dann sagt Karl Barth Worte, die berühmt geworden sind und die erstaunlich aktuell sind: „Ja, die Welt ist dunkel. Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, aber ganz von oben, vom Himmel her. Gott sitzt im Regimente. Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in dunkelsten Augenblicken! …Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! Es wird regiert!"

Wie schwierig die Lage auch sein mag und noch werden wird. Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, ganz von oben, vom Himmel her. Gott sitzt im Regimente.

In diesem Gottvertrauen lässt sich gut an die Herausforderungen gehen, vor denen wir stehen. In diesem Gottvertrauen höre ich für mich das Motto dieses Tages: Weiter Himmel – Zukunft gestalten. Das ist mein dritter Gedanke.

Ich nehme zu der Geschichte von der Stillung des Sturms noch einen Satz aus der nächsten Geschichte dazu: Und sie fuhren weiter. So beginnt die nächste Geschichte, es wird dann natürlich erzählt, wo sie hinfuhren und was da passiert. Entscheidend finde ich die Ermutigung: es geht weiter. Gewaltiger Sturm – großes Drama. Und dann geht es weiter. Weiter, immer weiter. Das ist nicht von Jesus, sondern von Olli Kahn.

Weiter Himmel – Zukunft gestalten. Das kann doch auch für uns nur heißen: Tag für Tag das tun, was zu tun ist. In nüchternem Blick auf die Realitäten. Und in Zuversicht, ohne zu resignieren, auch wenn es stürmisch ist.

Und in Orientierung an dem, der den Sturm beherrscht. Der Glaube an Gott kann auch so etwas wie ein Kompass sein, der Orientierung gibt. Den braucht man ja auf Schiffen.

Zukunft gestalten. Das wird für uns in der nächsten Zeit heißen, dass wir für den Frieden einstehen, wo immer wir können. Das heißt für mich auch, das Dilemma auszuhalten, dass es um des Friedenswillen nötig ist, der Aggression und dem schreienden Unrecht mit Gewalt und mit Waffen entgegen zu treten. Ja, das ist jetzt nötig. Und doch dürfen Christen nie in Kriegsbegeisterung fallen, es muss das Ziel immer der Frieden bleiben, ein Frieden in Gerechtigkeit – beides hohe Güter in der Bibel, auf beides ist der Kompass der Christen ausgerechnet. „Selig sind die Friedensstifter“ hat Jesus gesagt – und wer den Angriffskrieg religiös rechtfertigt wie der russische Patriarch begeht Gotteslästerung.

Zukunft gestalten. Was immer da kommt, der Schiffskompass der Christen scheint mir eins noch vorzugeben: Lasst uns aufpassen, dass wir beieinanderbleiben. Gerade schwere Zeiten schafft eine Schiffscrew nur gemeinsam. Lasst uns besonders auf die Schwachen achten, auf die, die sich nicht allein helfen können. Auf die, die die Preissteigerungen nicht nur ärgerlich finden, sondern die dadurch wirklich in Not geraten, die nicht wissen, wie sie bis zum Monatsende kommen sollen. Auf die, deren Seele unter all dem Druck in die Knie geht. Auf die Geflüchteten aus der Ukraine natürlich allemal. Lasst uns darauf achten, soweit es an uns ist, dass niemand über Bord geht.

Weiter Himmel – Zukunft gestalten. Zwischendurch will ich noch eine Erläuterung geben, warum es hier einen so weiten Himmel gibt und bis auf die Deiche so gar keine Berge. Ein Bischof aus Afrika hat dafür die Deutung geliefert. Der afrikanische Bischof hatte die deutschen Kirchen besucht. Er begann seine Visite zunächst in Bayern. Er war natürlich beeindruckt von den Bergen. Dann fuhr er mit dem bayerischen Bischof zu uns in den Norden, und als er das viele platte Land sah, sagte er: Oh, hier müssen aber gläubige Menschen wohnen, alle Berge sind schon versetzt.

Ob der Glaube bei uns gleich Berge versetzt hat, sei dahingestellt. Um ehrlich zu sein, ich habe erhebliche Zweifel daran. Es ist und bleibt für uns in der Kirche eine Herausforderung, Menschen von heute den Glauben erfahrbar und verstehbar zu machen. Das gehört für uns zum Zukunft gestalten.

Weiter Himmel – Zukunft gestalten. Eine Fülle von Aufgaben wartet auf uns, die wir zu großen Teilen heute noch gar nicht abschätzen können. Viele Verantwortliche, gerade in der Politik, haben so viel vor der Brust, dass es einem manchmal angst und bange werden kann. Aber die Geschichte von Jesus ist eine Geschichte gegen die Angst.

So lasst uns in Nüchternheit und Gottvertrauen jeden Tag tun, was zu tun ist. Und zugleich darauf vertrauen, dass wir nicht allein sind. Lasst uns darum beten für unsere Welt, beten um Frieden, beten für die, die in diesen Tagen besondere Verantwortung tragen. So schließe ich mit einem Wort von Dietrich Bonhoeffer aus dem Jahr 1944: Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.

Amen

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

„auf diesem Hügel liegt Segen“. Dieses Wort hat mich angerührt. Es ist ja hoch spannend, sich bei solch einem Jubiläum mit der Geschichte zu beschäftigen. Und dabei hörte ich die wunderbare, mündlich tradierte Geschichte, dass es in der Frühzeit der Entstehung eine landeskirchliche Kommission gab, die mögliche Standorte für ein Sprengelzentrum prüfen sollte. Lilienthal war im Gespräch, Bremervörde, Sittensen, und eben Bederkesa. Zu der Kommission gehörte eine Diakonisse aus Rotenburg, sie stand mit der Gruppe hier auf dem Grundstück, auf dem damals ein Campingplatz war, von dem man noch frei auf den See schauen konnte, und sagte: „Wie schön es hier ist. Auf diesem Hügel liegt Segen“. Und so entschied man sich für Bederkesa, wofür auch noch ein paar weitere Argumente sprachen, die Nähe zu Bremerhaven etwa und die Stärkung der Nordregion.  

Ja, auf diesem Ort liegt Segen. Das ist der Grund, dass wir heute beisammen sind. Um zu feiern, was seit vier Jahrzehnten hier geschehen ist.

Die Anfänge gehen ja zurück bis in die frühen 70er Jahre, zur Zeit von Landessuperintendent Kruse. (Darauf bezogen hätten wir also tatsächlich 50 Jahre, während die „50“ auf der Einladung, mein lieber Jörg, als Addition von 40 Jahren Bildungszentrum plus 10 Jahre Kompetenzzentrum ja ein ganz wenig gewollt ist.) Die Standortsuche war abgeschlossen, als im Juni 1974 ein Architektenwettbewerb gestartet wurde. Landessuperintendent Kruse, später Bischof von Berlin und Ratsvorsitzender der EKD, der vor Kurzem verstorben ist, nannte als Ziele der Einrichtung: „Fortbildung, Erfahrungsaustausch, Gemeinschaftserfahrung, Hilfe zur Konfliktlösung und zur Stärkung der Toleranz, Ermutigung zum Mittun, Wachsen im Glauben, Freitzeiterleben.“ Und das im Dialog mit Schule, Kommunen, Industrie usw. Ein Programm, das sich erweitert hat, das aber bis heute aktuell ist. Schließlich sagte er: „Wir brauchen ein schönes Haus, denn Kirche muss in unserer Zeit menschlicher, kontaktfreudiger, beweglicher werden.“ So 1974.

So kam der Architekturwettbewerb. Und dann kam noch etwas, was uns sehr aktuell erscheint, das Geld wurde knapp. Es gab eine Rezession, die Landeskirche verhängte einen Stopp. So ging es erst in der Zeit von Landessuperintendent Karl Manzke wieder voran. Die Landessynode bewilligte, offenbar mit sehr knapper Mehrheit, die Mittel - sechs Mio. Mark waren damals sehr viel -, und es kam ein schönes Haus, das dann im Lauf der Zeit noch schöner und größer und ökologischer wurde. Am 27. September 1982 wurde das Sprengelzentrum feierlich eröffnet, beinahe genau vor 40 Jahren. Fünf Jahre später, 1987, wurde es als Heimvolkshochschule eine offizielle Einrichtung der Erwachsenenbildung.
Bis 1994 übernahm Martin Pluskwa die Leitung. 1995 kam Jörg Matzen – das sind jetzt schon mehr als 27 Jahre und damit mehr als zwei Drittel der Zeit des Bildungszentrums. Es kamen Sanierungen, Erweiterungen, die Einrichtung des Kompetenzzentrums, das Kloster Neuenwalde, die Übernahme der Trägerschaft durch einen Verband aller Kirchenkreise im Sprengel und damit noch einmal eine intensivere Verankerung im ganzen Sprengel. Es kamen viele neue Themen: Inklusion – ganz wichtig –, sehr früh und wuchtig schon das heute zentrale Thema „Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit“, Digitalität, Migration, Demokratie, Gesundheit, Kunst und Theater, Lernräume für Kinder (ich stehe immer noch auf der Warteliste für ein Internetseepferdchen). Dazu immer wieder auch Spiritualität und Theologie, etwa in der Begleitung von Lektorinnen und Prädikanten oder beim Thema Sterbebegleitung. Wir werden zur Geschichte heute noch viel hören.

Ein solcher Tag ist Anlass, vielen zu danken. Allen, die das Bildungszentrum mit auf den Weg gebracht haben und die sich seit 40 Jahren dafür engagieren im gesamten Umfeld. Ganz besonderer Dank gilt natürlich denen, die im Haus und im Team mitgearbeitet haben und es heute tun. Viele Namen wären zu nennen, ich glaube es ist nicht verfehlt, wenn ich einen besonderen und großen Dank an Jörg Matzen ausspreche, ohne den unser Bildungszentrum nicht da wäre, wo es ist. Vielen Menschen danke ich – und ich danke Gott für alles, was geschehen konnte in diesen 40 Jahren. Ja, dies ist ein Ort des Segens. Ein Ort des Segens vor allem für die ungezählten Menschen, die hier gute und wichtige Impulse für ihr Leben empfangen haben.

1981 ist der Grundstein für dieses Haus gelegt worden. Ein Foto davon gibt es, es hat in Strömen geregnet. In Stein gemeißelt ist in den Grundstein das Wort, das das Motto für die Arbeit in diesem Haus legen soll: Johannes 8,32: „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Das Wort, hier im Untergeschoss in Stein gemeißelt, ist ganz schön kantig. Ihr werdet die Wahrheit erkennen. Die Wahrheit. Das war schon vor 40 Jahren alles andere als eindeutig, heute ist es das gewiss noch weniger, in einer multikulturellen und multireligiösen und in jeder Hinsicht unübersichtlichen Welt. 

So einen Grundstein, den sieht man ja nicht jeden Tag, viele haben ihn vermutlich noch nie gesehen. Aber er bildet doch ein wichtiges Fundament des Hauses, er gibt eine innere Richtung vor, auch wenn man das nicht jeden Tag bewusst vor Augen hat. Ich will über das Wort einen Moment nachdenken.

„Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Das Schöne an Worten der Bibel (und nicht nur der Bibel) ist, dass sie nicht nur eine Deutung zulassen, sondern dass sie offen sind für Deutungen, dass sie Räume eröffnen, Räume der Deutung, des Denkens, des Dialogs. Und dann ist so ein Wort gar nicht mehr so hart in Stein gemeißelt.

„Ihr werdet die Wahrheit erkennen“. Wenn ich zunächst auf den biblischen Zusammenhang schaue, dann ist völlig klar: Das ist nicht ein logischer oder ein philosophischer Begriff von Wahrheit, sondern hier geht es um Jesus Christus selbst. Zunächst um seine Worte. Der ganze Satz lautet: „Wenn ihr an meinem Wort festhaltet, seid ihr wirklich meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Es geht also um das, was Jesus verkündigt hat, um seine Worte. Seine Geschichten und Gleichnisse, in denen er von Gottes Liebe erzählt. Seine Weisungen auch, wie ein Leben in Liebe und Barmherzigkeit möglich ist. Wer sich an diesen Worten orientiert, der wird Freiheit erfahren. Wenig später identifiziert Jesus sich bei Johannes selbst mit der Wahrheit: „Ich bin die Wahrheit, sagt er. Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14,6). Eine große Zusage, eine Einladung. Im Vertrauen auf Christus öffnet sich ein Weg des wahren Lebens. So ist er die Wahrheit. Das Wort ist auch ein Anspruch, der Christenmenschen in die Pflicht nimmt und der sie in kritischen Dialog mit anderen Wahrheitsansprüchen stellt. Ein beliebiges „alles ist möglich“ ist auf dieser Basis nicht möglich.

Aber: Diese Wahrheit ist keine Lehre, keine Theorie, sondern sie ist auf eine Person bezogen, sie ist eine Sache des persönlichen Glaubens, des Vertrauens auf Christus, der einen Weg des Lebens eröffnet.

Dieses Vertrauen auf Christus ermöglicht Freiheit, die Freiheit eines Christenmenschen. Die Wahrheit wird euch frei machen! Diese Freiheit kann einen inneren Halt, eine innere Resilienz schenken in den Gefahren und Unberechenbarkeiten des Lebens, die wir heute so ernst erleben. Die Wahrheit wird euch frei machen, frei auch vor der Angst zu versagen oder nicht zu genügen – das ist wichtig ja auch für ein offenes Miteinander in Bildungsprozessen, in denen jeder Mensch in seiner Würde gleich zählt. Bindung an Christus – und eine große Weite im Denken und im Handeln. Für unser Haus heißt das für mich: Bildung im Zeichen der Freiheit eines Christenmenschen. Dafür steht das Grundsteinwort. Und damit für ein kirchliches Bildungszentrum mit einem klaren eigenen Profil, etwa in den täglichen Andachten – und mit einer großen Weite, mit Offenheit und Sensibilität für den eigenen Weg jedes Menschen, als ein Ort des Dialogs und gelebter Toleranz. Und immer auch im Ringen um die Wahrheit.

„Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Wenn man weiß, was man tut, finde ich es legitim, das Wort auch aus seinem ursprünglichen Zusammenhang zu lösen und als eine generelle Aussage über Wahrheit zu verstehen. Dafür gibt es übrigens ein prominentes Vorbild. Am Hauptgebäude der Universität Freiburg steht das Wort „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ 

„Die Wahrheit“ als Leitbegriff für Wissenschaft, für Bildung, für unser Handeln in Kirche oder Politik. Das ist steil, das erfordert kritische Debatten. Aber ist Wahrheit heute nicht auch sehr nötig? Was erleben wir da an Fakenews und alternativen Fakten. Es wird gelogen wie gedruckt, und das verbreitet sich über digitale Medien rasend schnell. Da braucht es Aufklärung und Bildung - im Namen der Wahrheit – und zwar eines Begriffes von Wahrheit der schlicht darauf schaut, dass das, was ist und was gesagt wird zusammenpassen. Dass „Aussage und Wirklichkeit übereinstimmen“, so sagt es unsere abendländische Tradition seit Aristoteles und Thomas von Aquin, und das ist erstaunlich aktuell. Die Verbreitung von Unwahrheit ist leider längst auch zur Kriegsmethode geworden. Wladimir Putin hat 300 Mio. in den Informationskrieg (oder genauer Desinformationskrieg) gesteckt, berichtet die FAZ am Donnerstag. Unwahrheit und Lüge wollen Freiheit und Demokratie zerstören. Bildung im Namen der Wahrheit – das ist auch eine Aufgabe, die dem Frieden dient, weil sie gegen Fehlinformation wie gegen Vorurteile angeht. Wage es, deinen Verstand zu gebrauchen! Die Wahrheit wird euch frei machen.

Ich komme noch einmal zur Freiheit eines Christenmenschen. Sie steht für mich in diesen Tagen auch für die Fähigkeit, Uneindeutigkeiten auszuhalten und Ambivalenzen. Man spricht heute – eine schweres Wort - von „Ambiguitätstoleranz“. Je schwieriger die Zeiten, desto mehr wollen viele Menschen klare und vor allem einfache Antworten. Diese Sehnsucht bedienen politische Extremisten auf beiden Seiten. In diese Kerbe haut jeder religiöse Fundamentalismus. Da müssen wir klar widersprechen, das ist ein falscher Umgang mit unserem Grundsteinwort. Ein Umgang, der nicht sieht, dass die Wahrheit, die Christus ist, in die Freiheit führt und nicht in die Enge. Aber auch Verschwörungstheorien sollen diese komplizierte Welt auf verrückte Art irgendwie erklären, indem ein ganz einfacher Plan hinter allem behauptet wird, Bill Gates oder der große Reset oder was immer. An diese Herausforderung unserer Zeit verbinden sich für mich beide Verständnisse von Wahrheit. Hier ist Aufklärung im Lichte der Wahrheit nötig, die falschen und vereinfachenden Thesen klar widerspricht. Und hier kann die Freiheit eines Christenmenschen eine große Hilfe sein. Wo Menschen sich im Glauben an Gott gehalten wissen, können sie besser aushalten, dass die Welt uneindeutig und komplex ist. Erst das ermöglicht das offene Gespräch, den Austausch über unterschiedliche Perspektiven. Dann muss man andere Meinungen nicht als Bedrohung empfinden, sondern kann sie gar als Bereicherung sehen. Dann wird das Ringen um Wahrheit niemals ohne Liebe und Verständnis sein und damit nicht hart und unbarmherzig werden.

Für dieses Gespräch ist unser Haus ein sehr guter Ort. Deshalb ist es ein Segen, dass es diesen Ort gibt. Und wir erbitten Gottes Segen für die Zukunft, für alle die hier arbeiten und die hier ein- und ausgehen.

Amen

Österliche Zeitenwende

Zeitenwende – dieses Wort ist oft zu hören seit dem Tag, an dem das russische Militär die Ukraine überfallen hat und seither einen brutalen Eroberungsfeldzug führt. Unser Bundeskanzler sprach es im Bundestag nur zwei Tage später aus: Wir erleben eine Zeitenwende. Ein völkerrechtswidrig begonnener Krieg tobt in Europa, den viele so nicht mehr für möglich gehalten hatten. Zivilisten werden gezielt erschossen. Millionen Menschen aus der Ukraine sind auf der Flucht. Kaum zu ertragen, das alles.

Zeitenwende. Wir diskutieren seither in neuer Weise über das politische System in Europa, auch über Fehler der Vergangenheit. Es wird anders gesprochen über Verteidigung, Rüstung und Sicherheit. Wir spüren, wie wenig selbstverständlich unser Leben in Frieden und Wohlstand ist. Nicht nur die Bilder von Krieg und Mord, auch die Unsicherheit vor der Zukunft machen vielen Menschen Angst.

In diesem Jahr feiern wir Ostern in dieser besonderen Situation. Ostern – das steht ja für eine ganz andere, für eine göttliche Zeitenwende. Mit Jesus Christus beginnt eine andere Zeit, das Jahr Null. Wir zählen seither „nach Christi Geburt“, und wir tun das nur, weil die ersten Christinnen und Christen die Erfahrung von Ostern gemacht haben. Indem Gott selbst die Macht des Todes mit der Auferweckung Jesu von den Toten gebrochen hat, hat er ein für allemal ein Zeichen gesetzt: Das Leben siegt über den Tod.

Leicht zusammen zu kriegen ist das nicht in diesem Jahr, finde ich. Die Bilder des Todes sind mächtig und lassen mich nicht so leicht los. Und doch: Die Osterbotschaft stand schon immer gegen die Bilder des Todes. Ostern gibt es nie ohne die Passion, ohne Schmerzen, Tränen und Tod. Passionserfahrungen sehen wir dieses Jahr genug.

So kann die Osterbotschaft gerade in diesem Jahr Hoffnung geben. Damit wir nicht irre werden an den Bildern aus Butscha, damit wir nicht den Kräften von Zerstörung und Hass verfallen. Es gilt dieses Jahr an Ostern vielleicht noch stärker als sonst: Gottes Wort ist ein Wort des Friedens. Zwischen Gott und den Menschen und unter den Menschen. So gibt Ostern Mut, für den Frieden einzutreten, wo immer wir können. Und es gibt Kraft zu helfen, wo jetzt praktische Hilfe nötig ist für die vielen Menschen, die auf der Flucht vor dem Krieg zu uns kommen.

Und: Ja, es ist nötig, den Realitäten ins Auge zu sehen, Aggression und Kriegsverbrechen klar beim Namen zu nennen und auch die Notwendigkeit, der aggressiven Gewalt mit Waffen und Gewalt entgegenzutreten. Aber trotzdem: Hass ist keine Option. „Wir werden der kriegslüsternen Herrscherclique in Russland nicht das Geschenk machen, ihr Volk zu hassen“ (Annette Kurschus). Christinnen und Christen verweigern sich dem Hass. Denn die christliche Gemeinde lebt schon immer in einer Zeitenwende.

„Khrystos Wosskress – Christus ist auferstanden“, so beten Menschen auf Ukrainisch und auf Russisch und auf Deutsch. Wir lassen uns die Zeit nicht nur von Aggression und Krieg ansagen, sondern vom Gott der Liebe. Nüchtern auf die Wirklichkeit zu schauen und dabei doch der öffnenden Kraft Gottes vertrauen zu können, das wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, an diesem Osterfest.

Regionalbischof
Dr. Hans Christian Brandy, Stade

Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk (Ps 85,9)

So betet der 85. Psalm:
Könnte ich doch hören das Wort des Friedens.

Aber da sind wir nicht.
Wir hören nicht Worte des Friedens, sondern Worte vom Krieg.
Wir hören schrecklichste Drohungen aus Moskau,
wir hören falsche Propaganda und unverhohlene Lügen:  
Die Lügen lauten: Es gebe keine Ukraine. Die Lüge lautet: Dort würde nicht eine demokratisch gewählte Regierung die Geschicke leiten, sondern eine Naziregierung. Die Lüge lautet: Es gebe Völkermord durch die Ukraine.

Lange befürchtet, hören wir Worte vom Krieg.
Und wir sehen Bilder vom Krieg.
Kaum zu ertragen sind sie, die Worte und die Bilder.
Rollende Panzer, kreisende Hubschrauber, brennende Häuser.
Die Kinder, die angstvoll im Schacht der U-Bahn sitzen, um vor Luftangriffen geschützt zu sein.
Der Mann, der weinend erzählt, dass er die Kinder in Sicherheit bringt, um dann selbst zurückzukommen um zu kämpfen.
Die Frau in Deutschland, die mit Tränen von ihrer Familie in Kiew erzählt.
Unendlich viel Leid bringt Krieg mit sich. Jeder Krieg.

Kaum zu ertragen sind sie, die Gedanken.
Ein so eklatanter Bruch des Völkerrechts.
Ein hemmungsloser Ausbruch des Bösen.
Und die eigene Hilflosigkeit, bei der wir doch nicht stehen bleiben dürfen.
„Wie kann mit Putin und einer Bande von politischen Lakaien umgegangen werden, die von Bosheit, Enttäuschung und Größenwahn getrieben, den Weltfrieden bedrohen?“ so hat unser Landesbischof gestern gefragt.
Und: Wie weit wird Putin gehen?
Was, wenn er auch vor Nato-Mitgliedern nicht Halt macht?
Was kann man ihm entgegensetzen?
Soll man der Ukraine wünschen, dass sie sich militärisch lange behauptet? Das ist ihr gutes Recht, der Gedanke ist unerträglich, einfach der Gewalt zu weichen. Aber in einem langen Krieg sterben noch mehr Menschen.

Was können Sanktionen bringen? Sie sind sicher nötig. Aber was bringen sie? Was und wem schaden sie auch?

Kaum zu ertragen diese Wucht des Bösen.
Kaum zu ertragen die Gedanken und Fragen.
Was wird der Krieg für uns bedeuten in Deutschland?
Für unsere Sicherheit in Europa, unsere Wirtschaft?
Wie werden wir umgehen mit den ungezählten Flüchtlingen, die wir auf ihrem Weg nach Westen sehen? 

Fragen über Fragen.
Antworten haben wir bisher kaum.
Aber wir sind versammelt, um alle unsere Gedanken und unsere Angst vor Gott zu bringen.
Wir wissen – auch ein Friedensgebet wird heute Abend nicht zum Frieden führen.
Aber so bleiben wir nicht sprachlos.
So bleiben wir nicht allein.
So bleiben wir nicht hoffnungslos.

Wir beten für die Menschen in der Ukraine.
Im Gebet sind wir mit ihnen vereint, und sage niemand, dass das eine schwache Gemeinschaft ist.

Wir beten für den Frieden in unserer Welt.
Für alle die Verantwortung tragen.
Für die, die auch jetzt noch um politische und diplomatische Lösungen ringen
Für die, die auch militärisch in Verantwortung stehen. Ich denke – um nur einen Namen zu nennen – daran, dass einer aus unserer Wilhadi-Gemeinde, Jürgen-Joachim von Sandrat, als Kommandierender General einer großen Militäreinheit der Nato in Polen in der Verantwortung steht. Und es gibt viele andere persönliche Betroffenheiten und Verbindungen.

Wir sind nicht hilflos, wenn wir beten und nicht allein und nicht sprachlos. Wir wenden uns an den, der Himmel und Erde in seinen Händen hält. Wir stehen vor dem, der in Jesus Christus an unsere Seite gekommen ist. Jesus Christus hat selbst Tod und Gewalt und Leid durchlitten. Gerade so hat Christus uns zugesagt, dass Gott in den dunklen Tagen da ist, dass Gott da ist in aller Not, aller Hilflosigkeit und Angst. Auf ihn, auf Christus lasst uns schauen gerade in diesen Tagen. Er ist unser Friede, so sagt es der Epheserbrief (2,14)

Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk. So betet der 85. Psalm.
Heute hören wir Worte vom Krieg.
Aber als Christenmenschen hören wir auf Gott und hören das Wort vom Frieden, vom Frieden, der höher ist als alle Vernunft.

Und der 85.Psalm fährt fort: Doch ist ja seine (Gottes) Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Lande Ehre wohne; dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen.

Dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Davon sehen wir heute wenig bis nichts. Aber wir hoffen auf diese Wirklichkeit Gottes, und das gibt einen anderen Horizont. Das lässt nicht mutlos werden. Das gibt die Kraft, anders zu handeln.

Krieg soll nach Gottes willen nicht sein, so hat es der Weltkirchenrat 1948 formuliert. Daran will ich mich erinnern lassen.
So verzweifelt die Lage im Moment erscheint – lasst uns
eintreten für den Frieden, wo immer wir können.
Wo für Frieden gebetet wird, wird auch für Frieden gehandelt, getan, was getan werden kann.

Lasst uns Menschen des Friedens sein. In dem, was wir tun können, für Menschen aus der Ukraine.
Wir wissen noch nicht, was kommt. Aber unsere Menschlichkeit besonders für Menschen auf der Flucht wird gefragt sein, das ist sicher.

Lasst uns auch Zeichen der Solidarität geben. Ich finde sehr gut, dass der Landkreis und die Stadt am Sonntag um 12.00 Uhr zu einer Solidaritäts- und Mahnwache aufrufen werden.

Lasst uns Menschen des Friedens sein. Auch in unserem Alltag, im Miteinander, in dem, wie wir über andere sprechen.
Frieden heißt, sich immer wieder in die Schuhe des anderen zu stellen. Die Ängste des anderen zu verstehen.

Ich schließe: Dietrich Bonhoeffer hat 1944 geschrieben: Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.

Beten und Tun des Gerechten. Besseres weiß ich heute auch nicht.

Amen

Die Landeskirche hat 2022 zum Taufjahr ausgerufen. Warum?

Jede Taufe ist ein wunderbares Fest des Lebens. Gottes Segen steht am Anfang, am Anfang des Lebens und am Anfang eines Lebens mit Gott. Diese Feier des Lebens ist wie andere wichtige Feiern durch die Corona-Pandemie oft ausgefallen. Aber wir beobachten auch schon länger, dass die Taufe oft lange aufgeschoben wird und dann ganz ausfällt – und das, obwohl wir durch Umfragen wissen, dass bei sehr vielen Evangelischen der grundsätzliche Wille da ist, ihre Kinder taufen zu lassen. Da möchten wir einladen zur Taufe. Das Signal ist: Lasst die Gelegenheit nicht verstreichen, jetzt zu feiern, Eure Kinder oder Euch selbst dem besonderen Taufsegen Gottes anzuvertrauen.

Welche Ideen gibt es im Sprengel für das Taufjahr?

In vielen Kirchengemeinden wird es besondere Tauffeste geben. Aber natürlich gibt es nach wie vor überall einfach schön gestaltete Taufgottesdienste. Das besondere an Tauffesten: Da werden - oft im Freien, an Seen oder Flüssen - ganz viele Menschen getauft. In Bremerhaven z.B. wird es Mitte Juni ein großes ökumenisches Tauffest direkt an der Weser geben, an dem sich über ein Dutzend Kirchengemeinden beteiligen.  Bei Tauffesten wird ja nicht nur gemeinsam ein Gottesdienst gefeiert, sondern auch Essen und Trinken im Anschluss geteilt. Denn zusammen zu feiern, macht einfach mehr Freude. Schön ist zudem, dass Tauffeste gerade Menschen, für die sich ein klassisches Familienfest nicht anbietet, einen besonders gestalteten Rahmen bieten.

Was bedeutet es Ihnen persönlich, getauft zu sein?

Die Taufe ist die unverbrüchliche Zusage, dass ich bei Gott angenommen bin mit all meinen Stärken und Schwächen. Sie ist das große Plus-Zeichen vor meinem Leben. Sie verbindet mich mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus. Und ich bin hineingestellt in die weltweite Gemeinschaft der Christinnen und Christen durch alle Zeiten.

Ihr Taufspruch?

Psalm 36,6: „HERR, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen.“ Ich liebe es sehr, auf weiten Touren mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Dabei kann ich dieses Wort schön meditieren und mich dabei an meine Taufe erinnern.

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Eindrücke von einem Tauffest in Nordholz:

„Am beeindruckendsten war für mich die Taufe einer Konfirmandin im See in Wanhöden. Sie wollte sich ganz untertauchen lassen und hat das im wahrsten Sinne eiskalt durchgezogen. Sie hatte auch vorgesorgt und Ersatzkleidung mitgebracht. Ihr Name war Jule - wo es doch gerade über eine Jule ein Kinderlied zum Thema „Waschen“ gibt. Frisch - fromm - fröhlich - frei. So fühlt sich Tauffest draußen für mich an."  Stephan Büttner, Pastor in Nordholz

Sonja Domröse, Pressesprecherin Sprengel Stade

St. Paulus, Buxtehude, 9. Januar 2022

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Der Tod ist das Persönlichste und das Allgemeinste, liebe Gemeinde. Das Allgemeinste ist der Tod: Alles Lebendige muss sterben. Jede und jeder von uns wird sterben. Zugleich ist der Tod das Persönlichste. Niemand stirbt allgemein. Jeder stirbt für sich allein. Jede stirbt ihren eigenen Tod. Wir alle können sehr persönliche Geschichten über Begegnung mit dem Tod erzählen.

Das Persönlichste und das Allgemeinste. Das bringt auch diese Ausstellung zum Ausdruck. Ganz persönliche Erfahrungen und Sichtweisen eines bedeutenden Malers, Uwe Appold - und ich finde eindrücklich, wie der knapp 80-jährige Maler über seine persönliche Auseinandersetzung mit der Endlichkeit spricht. Gedichte großer Autorinnen und Autoren, die jeweils auf sehr eigene Weise über Alter, Endlichkeit und Tod sprechen. So entsteht in der Zusammenschau ein höchst inspirierendes Panorama über ein Menschheitsthema – das wieder herausfordert zur ganz persönlichen Auseinandersetzung.

Ich finde diese Ausstellung einen Glücksfall und danke allen, die sich dafür engagiert haben und die sie möglich machen, überregional und hier in Buxtehude.

Seitdem ich mich mit den Bildern und Gedichten näher befasst habe, bewegen sie mich und arbeiten in mir. Für die Predigt sortiere ich diese innere Arbeit der Bilder an mir in drei Kreise. Und ich höre dazu im Dialog mit der Ausstellung in der Bibel auf den Apostel Paulus. Unser Tageblatt hat am 4. Januar getitelt: „St. Paulus macht den Tod zum Thema“. Das nehme ich doppelt wörtlich, im Blick auf die Ausstellung, aber auch, indem ich auf den Apostel Paulus höre.

Der erste Kreis meiner Gedanken dreht sich um das Thema Endlichkeit. Schwarze Grundfarbe – ernste Töne. Die Ausstrahlung erinnert uns an ein Thema, an das wir alle nicht so gern erinnert werden: Wir sind endlich. Wie werden sterben. Das ist keine leichte Sache. Und es passt damit in die Zeit der Pandemie, die unserer Gesellschaft den Tod ganz neu vor Augen geführt hat.

Schwarze Farbe – ernste Töne. Schwarz – das ist zuerst die Farbe der Trauer, des Todes. Der Tod mag manchmal eine Erlösung sein, ja. Oft ist er es aber auch nicht. Der Tod bleibt die Verneinung des Lebens, das Ende des Lebens, das Ende von Beziehungen. „O weh, wohin sind entschwunden alle meine Jahre?“, so schon die ersten Zeilen von Walter von der Vogelweide, und man sieht dazu jetzt den Strom, mit dem sie entschwunden sind, viel schwarz, ein wenig blau nur. Der Blick auf den Tod ist ernst und auch schmerzhaft: er „erschreckt uns“, so Friedrich Gottlieb Klopstock, und „er bleibt fürchterlich“. Der Tod beendet das Leben, und der Rückblick kann erschreckend nüchtern sein, so bei Hans Sahl: „Was bleibt von all dem, das ich tat und lebte? Nur eine Kleinigkeit: Ein Mensch fand statt.“ Eine der härtesten Aussagen, beinahe schockierend. „Ein Mensch fand statt.“ Mehr bleibt nicht? Ein nüchterner, ein nihilistischer Blick auch auf den Menschen. Kein ungewöhnlicher Blick in unserer Zeit wohl.

Auch der christliche Glaube malt den Tod nicht schön. Uwe Appold zitiert in seinem Text Paulus aus 1. Korinther 15 (V.26): „Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod.“ Es ist eben der letzten Feind. Kein Freund. Auch kein Bruder. Wenn der Tod verharmlost und verniedlicht wird – das entspricht nicht dem christlichen Glauben. Auch der Tod Jesu war alles andere als harmlos und harmonisch. Jesus selbst hat im Garten Gethsemane wirkliche Todesangst durchgemacht; mit diesen Gethsemane-Erfahrungen übrigens hat Uwe Appold sich ebenfalls auseinandergesetzt, er war neun Tage in diesem Garten und hat dort gemalt. Christlicher Umgang mit dem Sterben nimmt die Endgültigkeit des Todes ernst. Da sind keine schnellen Worte und Antworten gefragt. Da ist manchmal nur Schweigen möglich, da ist einfühlsame Begleitung angesagt. Da kann man manchmal nur in Bildern sprechen.

Damit zum zweiten Kreis meiner Gedanken, die an den Bildern und Gedichten entlanggehen. Rettung. Beim Ernst und bei der Endgültigkeit des Todes kann ich nicht stehen bleiben. Paulus jedenfalls tut es nicht – ich meine den Apostel. Und das wurzelt für ihn in der Auferweckung Jesu. Durch diese Erfahrung der ersten Christen ist alles anders – auch der Blick auf den Tod. Paulus weiß: Die ersten Christen waren nach dem Tod Jesu völlig am Ende gewesen. Auch für sie war sein Tod erstmal das Ende, das Ende aller Hoffnungen. Dann aber war Jesus den Jüngern lebendig begegnet. Am Anfang den Frauen, dann vielen anderen. Paulus nennt eine ganze Liste von über 500 Namen. Aus dieser Ostererfahrung erwächst die Zuversicht und Hoffnung des Glaubens angesichts des Todes für Paulus: „Gott hat Christus auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft“ (1. Kor 6,14). Und so kann Paulus am Ende des großen 15. Kapitels des 1. Korintherbriefs, in dem er über Tod und Auferstehung spricht, sagen: „Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“ (1. Kor 15,55)

Hoffnung auf Rettung. Wie findet sie sich in den Bildern und Gedichten? Zurückhaltend, ahnend eher, tastend. Über „das kleine Licht der Sphären“ lese ich bei Marie Luise Kaschnitz und sehe es bei Uwe Appold. Das kleine Licht!

Kleines Licht erscheint für mich aber auch durch die Worte, die in jedes Bild gezeichnet sind. Das Schwarz bleibt nicht wortlos. Der Tod bleibt nicht sprachlos. Es sind nur einzelne Worte, aber es sind Worte. So wie der christliche Glaube Worte zu finden versucht angesichts des Todes – in jeder Trauerfeier tun wir das. „Das Wort“ so steht es ausdrücklich im Bild zu Adelbert von Chamisso. Bei Joseph von Eichendorf lese ich „Lenz“, und es verweist auf den „Lenz, der nimmer endet“, den ewigen Frühling Gottes. Und in diesem Bild sehe ich viel Licht und weniger schwarz. „Mein Thema ist Versöhnung zwischen zwei unversöhnlichen Zuständen: Leben und Tod“, so schreibt Uwe Appold.

Am meisten angerührt hat mich das Bild zu Klopstock. „Retter“ steht da. Im Gedicht heißt es: „Es erschreckt uns, unser Retter, der Tod!“ Ja, er erschreckt, erst ganz am Ende führt er bei Klopstock „zur Vollendung“ und „in der Erkenntniße Land“. Das Wort „Retter“ hat Uwe Appold ins Schwarz geschrieben. Aber: Er hat es spiegelverkehrt getan. Der Retter ist nicht einfach da, die Rettung ist nur gebrochen zu sehen.

Das kommt meiner Erfahrung von Tod sehr nahe. Und das passt eben auch zum Kern unseres Glaubens, wo die Rettung gerade darin liegt, dass wir – jetzt zu Weihnachten – auf ein unscheinbares Kind in einer Krippe schauen, und dann auf den gekreuzigten Christus. Der Tod wird nicht martialisch und triumphal besiegt –Menschen leiden ja noch genug unter ihm. Er ist so besiegt, dass ich darauf vertraue, dass der gekreuzigte und auferstandene Christus an meiner Seite ist, auch auf schweren Wegen und auch im Sterben. Und dass ich bei ihm in Ewigkeit geborgen bin.

Der „Retter“, spiegelverkehrt. Das passt zu Paulus: „Unser Wissen ist Stückwerk.“ Erst „wenn das Vollkommene kommen wird, wird das Stückwerk aufhören“ (1. Kor 13,9f). Und dazu fällt mir Martin Luther ein: Gott ist bei uns verborgen, so hat er gesagt, unter seinem Gegenteil. Da wo man Gott nicht erwartet, da ist er. Im Kind in der Krippe, im Mann am Kreuz. Gott unter seinem Gegenteil, sub contrario. Aber gerade so da, wo Menschen ihn am nötigsten brauchen.

Mein dritter Gedankenkreis: Leben aus Hoffnung. Zum Gedicht von Erich Fried ist das Wort „Hoffnung“ ausdrücklich ins Bild geschrieben: „… vom Glück der Hoffnung auf Glück“, heißt es da.

Früher gab es eine richtiggehende Kunst des Sterbens, auch als literarische Gattung. Heute ist das aus der Mode gekommen. In manchen neuen gesellschaftlichen Entwicklungen entdecke ich aber etwas von einer neuen ars moriendi, einem bewussten Umgang mit dem Sterben. Das ist eine gute Entwicklung. Etwa, wenn in der Palliativ- und Hospizbewegung sehr bewusst mit dem Sterben umgegangen wird. Aber auch diese Ausstellung mit all den wichtigen Veranstaltungen im hochkarätigen Begleitprogramm ist ein Beitrag zu dieser Kunst.

Es gibt eine wunderbare Schrift von Martin Luther dazu, von der Bereitung zum Sterben, damals 1519 ein Bestseller. Darin gibt er zunächst ganz profane Hinweise: Man soll rechtzeitig seine Schulden bezahlen, man soll sein Erbe regeln, und – ganz wichtig – seine Beziehungen in Ordnungen bringen. Und schließlich spricht er von der Zuversicht des Glaubens, der nicht auf den Tod starrt, sondern auf Christus, und so getrost sterben kann, in der Hoffnung auf das ewige Leben bei Gott. Schau nicht auf den Tod! Ein starker Satz von Luther: "Suche dich nur in Christus und nicht in dir, so wirst du dich ewig in ihm finden."

Leben aus Hoffnung. Zum Blick auf den Tod gehört für Christenmenschen auch ein Schuss Humor. So wie zu Ostern das Osterlachen gehört. Ich habe ein Buch mit originellen Traueranzeigen. Da steht schon mal „aus die Maus“ über einer Todesannonce. Von Herzen kommt: „Es ist echt zu bitter.“ Nicht erfunden ist auch eine Anzeige für einen 82-Jährigen, der zehn Tage nach seiner Frau verstarb: „Wie im Leben – Oma rief – Opa kam.“ Genauso originell ist auch das Studium alter Grabinschriften. In früheren Zeiten hatte man da oft einen eher derben Charme, etwa: „Hier liegen meine Gebeine, ich wollt‘, es wären Deine“. Auf dem Ohlsdorfer Friedhof kann man lesen: „Du stehst noch hier, und ich bin hin. Bald bist du dort, wo ich schon bin.“ Aber auch Pastoren kann es treffen: „Den Pfarrer Sedulim verschließet dieses Grab. Gott, gib den Schlummer ihm, den er den Hörern gab.“

Darf man so über den Tod reden? Ich meine ja. Christen sehen den Tod in seinem ganzen Ernst und Schmerz. Und sie sehen ihn zugleich in der Perspektive der Auferstehung. Deshalb hat der Tod nicht das letzte Wort und man kann auch einmal über ihn lachen. Die Welt ist mir ein Lachen, Mit ihrem großen Zorn hat Paul Gerhardt gedichtet, und damit hat er auch den Tod gemeint.

Die Kunst des Sterbens wieder etwas mehr zu lernen, bedeutet gerade nicht, dass wir uns die Freude am Leben durch trübe Gedanken an den Tod rauben lassen. Im Gegenteil. Zur wirklichen Freude am Leben gehört innere Freiheit, und die hat gerade nicht, wer den Tod verdrängt, sondern wer sich bewusst damit auseinandersetzt und ihm standhält.

Der Soziologe Harald Welzer hat gerade ein originelles Buch veröffentlicht: „Nachruf auf mich selbst.“ Harald Welzer, der genauso alt ist wie ich, hat einen Herzinfarkt nur knapp überlebt. Dadurch, so sagt er, habe er einiges verstanden, was auch moderne Menschen kapieren müssen: In unserer aufgeklärten Welt gibt es dieses „Andere“, Grenzen der Wissenschaft, den Tod, die eigene Endlichkeit. Und Welzer sagt: „Das Bewusstsein, dass mein Leben endlich ist, mehr noch, ganz direkt, von einem Moment auf den anderen zu Ende sein kann, ist kolossal wichtig dafür, was ich mit ihm mache.“ Und empfiehlt: wir alle sollten einen Nachruf auf uns selbst schreiben: Wie möchte ich, dass nach meinem Tod über mich geredet wird? Was soll von meinem Leben bleiben? Damit stellt sich die Frage: Lebe ich eigentlich so? Oder wo sollte ich mein Leben ändern? Das ist eine moderne ars moriendi, eine Kunst des Sterbens. Zu dieser Kunst möge mit Gottes Segen auch diese Ausstellung beitragen.

Amen.

Sonja Domröse, Pressesprecherin Sprengel Stade

„Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ (Johannes 6, 37)

Ein gedeckter Tisch, Kerzen brennen, es duftet aus der Küche, die Tür ist einladend geöffnet. Vor meinem inneren Auge entsteht dieses Bild, wenn ich die Losung für das Jahr 2022 lese. Die Worte Jesu rufen in mir Erlebnisse von Gastfreundschaft wach. Ich werde empfangen, bewirtet, darf Gast sein.

„Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ Jesus sagt diese Worte, nachdem er am Tag zuvor mit zwei Fischen und fünf Broten viele Menschen gesättigt hat. Wir kennen diese Geschichte als die Speisung der Fünftausend. Menschen haben bei Jesus Gastfreundschaft und Fülle erlebt. Im Johannesevangelium öffnet Jesus diese Geschichte in eine ganz weite Perspektive: Was ist Nahrung, was ist Grundlage für Euer Leben? Wo wird Euer Lebenshunger gestillt? fragt er. Seine Zusage, die zugleich eine Einladung zum Glauben ist: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer an mich glaubt, der wird nicht hungern.“

In Jesus Christus begegnet mir die Menschenfreundlichkeit Gottes, die tragende Gewissheit für mein Leben ist. Das ist ganz offenkundig nicht an Bedingungen gebunden. Meine Fehler, meine Grenzen und Widersprüche, meine inneren Zweifel - all das spielt keine Rolle. Und das gilt für alle: Weder Hautfarbe noch Geschlecht, weder Bildung noch Frömmigkeit werden überprüft. Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen. Was für eine Universalität der Menschenliebe Gottes!

Daraus folgt für mich eine Haltung der Gastfreundschaft. So hat es Jesus praktiziert. Und so ist es denen aufgegeben, die sich an ihm orientieren und ihm nachfolgen. Gastfreundschaft, das hat unabweisbar eine politische Dimension, wenn wir an die ungezählten Menschen denken, die auf der Flucht sind. Hier bleibt unser reiches Land und hier bleiben wir als Christenmenschen weiter gefordert.

Aber Gastfreundschaft – das ist eine Frage auch an unseren Alltag. Leben wir solch einen Geist, der nicht abweist, wenn Menschen zu uns kommen? Ein schottischer Pastor erzählte: „Gestern Abend saß ich mit einem Freund am Tisch, als es an der Tür klingelte. Ein Mensch, der Hilfe brauchte, stand vor der Tür. Wir baten ihn an unseren Tisch. Er blieb lange und aß mit gutem Appetit. Als er gegangen war, sagte mein Freund: ‚Heute war Jesus bei uns zu Gast. Aber ich hoffe, er kommt nicht allzu oft.‘“ Britischer Humor.

Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen. Wer das ernst nimmt, dem ist die Frage aufgegeben: Wie können Großzügigkeit und Gastfreundschaft, wie kann eine einladende Haltung konkret gelebt werden? Ganz persönlich. Aber auch in unseren Gemeinden, in unserem Alltag, in unseren Gottesdiensten.

Die meisten weisen sicher nur selten und ungern Menschen bewusst ab. Aber tun wir es vielleicht unbewusst? Ist unser Gemeindeleben auch für Menschen, die der Kirche ferner stehen, attraktiv? Sind unsere Gottesdienste einladend auch für die, die mit ihnen nicht vertraut sind, so dass sie sich nicht fremd fühlen müssen? Empfangen wir alle gastfreundlich, sprechen wir eine verständliche Sprache, geht es um die Lebensthemen der Menschen? Wie sieht es mit der Vernetzung vor Ort aus? Kooperieren wir mit anderen auch außerhalb unserer (wie man neudeutsch sagt) „Bubble“, die sich so - wie wir als Kirche - im Gemeinwesen für ein gelingendes Miteinander einsetzen?

Ich wünsche Ihnen, dass Sie Lust haben, mit anderen darüber ins Gespräch zu kommen, wie wir als Christenmenschen und als Gemeinden ausstrahlungsstark und einladend leben können. Und ich wünsche Ihnen persönlich, dass Sie immer wieder für sich selbst im Vertrauen auf Gott Kraft empfangen durch das „Brot des Lebens“, das Jesus Christus ist. Wir alle sind immer wieder an Gottes gedeckten Tisch eingeladen und sind bei ihm willkommen. Seine bedingungslose Menschenfreundlichkeit gebe Ihnen im neuen Jahr inneren Halt und Zuversicht in allem, was kommt.

Ein gesegnetes Jahr 2022!

Ihr

Hans Christian Brandy
Regionalbischof im Sprengel Stade

Predigt über „Hört der Engel helle Lieder“

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

die Zeiten sind schwer. Ich habe mich für ein leichtes Lied entschieden. An den Weihnachtstagen lege ich jedes Jahr eines unserer Weihnachtslieder der Predigt zu Grunde. In diesem Jahr habe ich ausgewählt „Hört der Engel helle Lieder“. Das ist ein leichtes Lied, das einen hellen Glanz verbreitet. Kein komplizierter Text ist auszulegen. Ein Lied mit einer beschwingten Melodie und dem eingängigen Refrain: Gloria in excelsis deo: Ehre sei Gott in der Höhe.

Weil man diese Stimmung mit Worten unmöglich erzeugen kann, lassen Sie uns die erste Strophe singen: 54,1

Singen Strophe 1

Dieses schöne, beschwingte Weihnachtslied stammt aus Frankreich. Vermutlich ist es im 18. Jahrhundert entstanden, erstmals gedruckt findet man es 1842. Nach dem 2. Weltkrieg entstanden mehrere Übersetzungen bei uns in Deutschland. Die Fassung von Otto Abel, die in unserem Gesangbuch steht, wurde 1954 veröffentlicht in einem Buch mit „Europäischen Weihnachtsliedern“. Das kommt uns heute selbstverständlich vor, so kurz nach dem 2. Weltkrieg war es das aber gar nicht. Bis vor Kurzem hatten viele nur auf das Deutsche geschworen. Jetzt den Reichtum der Lieder anderer Länder auch bei uns fruchtbar zu machen, war schon in sich ein Zeichen von Versöhnung, 1954. Jedenfalls wurde das Lied in dieser Fassung mit drei Strophen so populär.

Der kurze Text führt uns mitten hinein in die Weihnachtsgeschichte. Er führt uns auf die Felder bei Bethlehem. Da, wo in der Nacht die Hirten ihre Herden hüten. Man soll sich das ja nicht zu idyllisch vorstellen. Das war kein Weihnachtsspiel, sondern harter Arbeitsalltag. Unsere Hirten heute haben ja zunehmend mit dem Wolf zu kämpfen – das war damals nicht anders. Und die ständige Gefahr durch Wölfe war beileibe nicht die einzige. Also, wir sind bei Leuten, die Mühen und Plackerei kennen. Und dass sie besonders religiös waren, ist auch nicht anzunehmen. Auch das also wie heute. Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Wir sind mitten in der Weihnachtsgeschichte, in der Nacht, auf den Feldern bei Bethlehem. Im mühsamen Alltag – so wie bei uns auch.

Dann ist da ein Engel, der den Hirten erzählt von dem Kind, das geboren ist: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude; denn euch ist heute der Heiland geboren. Ihr werdet ein Kind finden, in Windeln, in eine Krippe gelegt. Und dann kommen mehr Engel, ein großer Chor: Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. So der Gesang der Engel. Genau darauf werden wir jetzt durch einen Sprecher, einen Boten hingewiesen. „Hört hin“, sagt er.

Hört, der Engel helle Lieder
klingen das weite Feld entlang,
und die Berge hallen wider
von des Himmels Lobgesang:
Gloria in excelsis Deo (Ehre sei Gott in der Höhe).

„Hört hin“! Offenbar kann man den Gesang der Engel überhören, wenn man nicht aufmerksam ist. Vielleicht sind unsere Ohren mit so vielem voll. Mit Nachrichten und Musik und Geräuschen. Wenn man nicht aufpasst, kann man den Gesang der Engel überhören: Aber wenn man hinhört, dann klingen der Engel helle Lieder das weite Feld hinab und hallen sogar von den Bergen wieder. Dann ist die ganze Welt ein weihnachtlicher Lobgesang. Das ist eine Einübung von Weihnachten: aus der Vielzahl der Geräusche und Melodien den Klang der Engel er-hören.

Was aber sollen die Hirten damit anfangen? Friede auf Erden? Sollen sie diesen Worten wirklich trauen? Längst geben sie nichts mehr auf große Parolen. Aber diese Stimmen, das Leuchten vor Augen und in den Herzen lässt sie die Arbeit unterbrechen und loslaufen. Was sie dann sehen, stellt alles auf den Kopf: Ein Kind zeigt ihnen Gott. Und sie begreifen irgendwie: So kommt Gott in die Welt, zu uns Menschen, mitten in unseren Alltag. Damit wir nie und nirgends gott-los sind.

Jedenfalls lassen sich die Hirten anstecken von dem Gesang der Engel. Das erfahren wir in der zweiten Strophe, in der wir in einen Dialog mit den Hirten eintreten: Hirten, warum wird gesungen? fragen wir.

Hirten, warum wird gesungen?
Sagt mir doch eures Jubels Grund!
Welch ein Sieg ward denn errungen,
den uns die Chöre machen kund?
Gloria in excelsis Deo.

Lassen Sie uns die 2. Strophe singen.

Singen Strophe 2

Jetzt singen die Hirten also auch. Sie jubeln. Sie haben sich anstecken lassen von der himmlischen Musik. All unser Gesang, all unsere Musik, all unsere irdischen Gottesdienste – sie sind ein Abbild der himmlischen Liturgie der Engel. Wenn wir singen, auch zu Weihnachten, lassen wir uns mitreißen von der Musik der Engel.

Die Hirten jedenfalls haben sich anstecken lassen, und zwar so begeistert, dass es nur ein Sieg sein kann, den man so besingt.

In der dritten Strophe geben die Hirten Antwort auf die Frage nach dem Warum:

Sie – (die Engel) - verkünden uns mit Schalle,
dass der Erlöser nun erschien,
dankbar singen sie heut alle
an diesem Fest und grüßen ihn.
Gloria in excelsis Deo.

Wir singen die 3. Strophe.

Singen Strophe 3

Dass der Erlöser nun erschien – die Hirten geben wieder, was der Engel ihnen gesagt hatte: euch ist heute der Heiland geboren. Ja, es ist ein Sieg, der Sieg Gottes über alle Mächte der Dunkelheit, alle Mächte, die das Leben schädigen möchten. Weil Gott selbst hineinkommt in das Dunkel des menschlichen Lebens. Diesen Sieg besingt einzigartig der Schlusschoral von Bachs Weihnachtsoratorium: Christus hat zerbrochen,
was euch zuwider war. Tod, Teufel, Sünd und Hölle sind ganz und gar geschwächt; bei Gott hat seine Stelle das menschliche Geschlecht.

Und dann vereinigt sich alles in dem großen Gesang: Gloria in excelsis deo. Darin läuft alles zusammen. Ehre sei Gott in der Höhe. Strahlend, jubelnd, immer wieder wiederholt. Das jubelnde Lob Gottes ist ein Grundklang von Weihnachten. Jauchzet, frohlocket!

Über dieses gloria in excelsis deo möchte ich noch einen Moment nachdenken. Warum ist es gut und richtig, Gott zu loben? Warum ist das so ein elementarer Ausdruck von Weihnachten, dass wir in das jubelnde Lob Gottes einstimmen? Darauf gebe ich fünf ganz kurze Antworten.

1. Wir danken Gott für das Wunder von Weihnachten. So wie schon die Hirten: dankbar singen sie heut alle an diesem Fest und grüßen ihn, den neugeborenen Sohn. Weihnachten feiern wir das Geschenk Gottes schlechthin. Was ist da natürlicher als zu danken. Ehre sei Gott in der Höhe.

2. Es ist gut, Gott zu loben, weil es uns daran erinnert, dass wir Menschen Geschöpfe sind. Wir haben unser Leben nicht aus uns selbst, es ist Geschenk. Indem wir Gott und nur Gott die Ehre geben, erinnern wir uns daran. Wir erinnern zugleich daran, dass wir selbst nicht Gott sind und nicht sein müssen. Diese Einsicht hat etwas sehr Befreiendes. Wir müssen uns unser Leben nicht verdienen und wir können es nicht. Es ist Geschenk. Jeder von uns ist unendlich mehr als die Summe der eigenen Leistungen und Fehlleistungen. Gerade dafür steht Weihnachten. Deshalb ist es gut, dass wir einmal von uns wegschauen, von unseren Leistungen und Anstrengungen und Fehlern. Genau das geschieht, wenn wir Gott loben. Wir lassen uns befreien, lassen von allzu viel Verkrampfung und dem ständigen Funktionieren-Müssen. Freisein vom Druck zu Leistung, von der reinen Zweckmäßigkeit. Dafür steht das Lob Gottes: Ehre sei Gott in der Höhe

3. So erinnert es uns auch daran, dass der Mensch nicht das letzte Maß aller Dinge ist. Wo Menschen zu viel Ehre erhalten, da wird es gefährlich, das haben wir in unserer Geschichte erlebt, wenn Menschen „Heil“ zugerufen wird. Diktaturen zeigen, wie unmenschlich es wird, wenn Menschen für sich die letzte Ehre verlangen. Nein, der Mensch darf nie die letzte Instanz über den Menschen sein. Daher ist das „Gott allein die Ehre“ eine heilsame Begrenzung für allen Anspruch von Menschen über Menschen. Das Lob Gottes begründet Humanität.

4. Das Lob Gottes steht gegen verbreiteten Pessimismus und miese Stimmung. Viele Menschen haben ja den Eindruck, es wird immer alles schlimmer. Den kann man derzeit vielleicht auch haben. Ich empfinde das manchmal auch. Es stimmt aber nicht. Soviel auch im Argen liegt, es gelingt eine Menge, es scheint doch, dass wir Menschen weniger oder bessere Fehler machen.

Es ist so schnell wie noch nie ein wirksamer und verträglicher Impfstoff gegen eine Pandemie erfunden worden – davon hätten viele Generation nur träumen können. Die Arbeitslosigkeit sinkt trotz Corona. Trotz der Pandemie ist die Lebenserwartung so hoch wie noch nie. Die Zahl der Verkehrstoten ist so niedrig wie nie. Auch die weltweite Kindersterblichkeit hat gottlob einen historischen Tiefststand erreicht, auch wenn es noch immer zu viele sind. Es ist auch nicht wahr, dass die Menschen immer egoistischer werden. Es wurde 2021 in Deutschland so viel gespendet wie noch nie – besonders für die Opfer der Flutkatastrophe. Man kann diese Liste fortsetzen.

Nein, es ist nicht alles gut. Aber es ist auch falsch, sich den Blick verstellen zu lassen auf das, was gelingt oder was uns geschenkt ist. Es ist schlicht undankbar. Und es lähmt. Der allgemeine Grauschleier tut uns nicht gut. Es ist viel besser, einen nüchternen Blick zu haben für Probleme und Herausforderungen, zugleich aber auch dankbar wahrzunehmen, was dank Gottes Hilfe möglich ist. Da ist das Lob Gottes ein gutes und heilsames Korrektiv. Es zieht uns weg von unserer Problemverliebtheit.

5. Damit hängt schließlich zusammen: Gott zu loben, tut uns gut. Besonders, wenn wir es singen. Musik, Singen verwandelt uns, Musik lässt es uns besser gehen. Das haben viele gespürt in den letzten Monaten, wenn man nicht singen durfte. Und: Durch das Singen, durch die Musik kann man noch einmal etwas ganz anderes und viel tiefer sagen als durch Worte. Musik erreicht uns viel tiefer als Gedanken. Deshalb ist es gut, wenn wir uns von den Engeln anstiften lassen und das Lob Gottes singen. Und deshalb ende ich die Worte und wir singen noch einmal das ganze Lied: Hört, der Engel helle Lieder

Amen

Predigt Heiligabend 2021, 18.00 h, St. Wilhadi Stade

Der Friede des Herrn sei mit euch allen. Amen.

Ich finde die Geschichte immer wieder faszinierend, liebe Gemeinde. Es ist der 24. Dezember 1914. Der erste Winter des Ersten Weltkrieges. Am Anfang waren die Deutschen rasch vorangekommen, jetzt aber liegen sich Deutsche, Engländer und Franzosen in Schützengräben gegenüber, teilweise nur wenige Meter voneinander entfernt. Ein fürchterlicher, zermürbender Stellungskrieg hat begonnen. Viele haben die Soldaten schon neben sich sterben sehen bei dem Versuch, ein paar Meter einzunehmen. Millionen wird er noch das Leben kosten

Und dann ist es der Heilige Abend dieses Jahres 1914. Ein deutscher Soldat ruft: „Kameraden, nicht schießen“. Irgendjemand stimmt an und sie singen „Stille Nacht“ und „O Tannenbaum“. Die Englänger antworten mit Liedern, auch dort schießt niemand. Die ersten trauen sich aus dem Graben heraus. Die deutsche Heeresleitung hatte zehntausende Mini-Weihnachts­bäume an die Front geschickt, die werden jetzt vor den Schützengräben aufgestellt und verbreiten auf beiden Seiten eine ganz besondere Atmosphäre. Soldaten, die eben noch aufeinander geschossen hatten, tauschen jetzt kleine Geschenke, die von zuhause gekommen sind. An mehreren Stellen wird Fußball gespielt.

Dieses Weihnachtswunder hat so oder so ähnlich an etlichen Stellen stattgefunden und ist vielfältig bezeugt. Natürlich soll man die Sache nicht idealisieren. Hinterher gingen das Schießen und Töten fürchterlich weiter, noch mehr als drei Jahre lang.

Trotzdem ist es eine anrührende und eine weihnachtliche Geschichte. Sie macht besonders zugespitzt deutlich, wofür Weihnachten steht: Es unterbricht den Gang der Dinge, den Gang von Hass und Feindschaft und Gewalt. Es ist die große Zäsur.

Weihnachten ist eine große Unterbrechung, so wie jedes Fest den Alltag unterbricht. Und eine solche Unterbrechung tut uns gut. Nach beinahe zwei Jahren Pandemie sind viele sehr erschöpft. „Ich will das nicht mehr“, höre ich oft. Die existentiellen Sorgen, die Angst vor der Zukunft, die Folgen der Krankheit und der Isolation tun vielen Menschen nicht gut.

Dazu die Probleme, die ja auch zu Weihnachten nicht aufhören, so wenig wie der Krieg aufhörte: die dramatischen Herausforderungen des Klimawandels, die Geflüchteten auf dem Mittelmeer, die russischen Soldaten vor der Ukraine. Und die ganz privaten Sorgen und Aufgaben, durch die Weihnachtszeit bei vielen noch mal vermehrt. Immer schneller, immer mehr Informationen in immer kürzerer Zeit, immer drängendere Veränderung.  Wir drehen uns immer mehr im Kreis, so empfinden es viele. Und ihnen wird schwindelig dabei.

Und da hinein kommt Weihnachten. Wie jedes Jahr, alle Jahre wieder. Weihnachten soll möglichst sein wie immer. Dieselben Abläufe, das gewohnte Essen, die vertrauten Texte und Lieder. Der Aura von Weihnachten kann sich kaum jemand entziehen, ganz gleich, wie man innerlich zu den Fragen des Glaubens steht. Weihnachten – das ist für viele ein Tabu in einer Zeit, die kaum noch Tabubrüche kennt. Es ist wie eine Oase. Das lässt Zeit zum Durchatmen, und ich wünsche Ihnen, dass Sie die finden. Wer sich in Gedanken einen Moment an der Krippe niederlassen kann, spürt einen ganz anderen Frieden inmitten von viel Hektik und Unfrieden.

Weihnachten ist eine große Unterbrechung. Das war schon das erste Weihnachten so. Es begab sich aber zu der Zeit – das unterbrach den Gang der Weltgeschichte ganz gewaltig. So sehr, dass wir seither die Zeit anders zählen. Wir zählen vor und nach Christi Geburt. Von wegen: Immer dasselbe. Alles wird durch Weihnachten auf null gestellt. Wir sind am Ende des Jahres 2021 nach Christi Geburt.

Gott selbst hat den Gang der Zeit unterbrochen. Da wird ein Kind geboren, das anders ist als alle Kinder und das wir bis heute feiern. Da leuchtet ein Stern, der anders ist als alle Sterne und Menschen zu diesem Kind hinführt. Da kommen Engel, die den überforderten Menschen erklären, was geschehen ist. „Ich verkündige euch große Freude, denn euch ist heute der Heiland geboren“. Und vor allem rufen die Engel den verschreckten Menschen zu: Fürchtet euch nicht. Das ist die größte Unterbrechung überhaupt, dieses „Fürchtet euch nicht“ gerade auch im Pandemiejahr 2021 mit allen Ungewissheiten vor der Zukunft.

Ein kluger Journalist (Heribert Prantl) hat jüngst gesagt: „Dafür ist Kirche da: Den Himmel offen halten und dem Menschen helfen, die Angst zu überwinden; dem Schüler, der in der Schule gemobbt wird; dem Kranken, der das Sterben fürchtet; dem Flüchtling, der die Abschiebung im Genick spürt.“  Wir haben als Kirche die Aufgabe und das Vorrecht, der Angst entgegen zu treten und genau dadurch Mut zum Handeln und zur Veränderung zu machen. Es geht darum, dass „»allem Volk«, wie es in der Bibel heißt, verkündigt wird »Fürchte dich nicht«.“

Weihnachten – die große Unterbrechung der Zeit. Seither ist die Zeit anders. Im Griechischen gibt es zwei Worte für Zeit. Chronos – die Zeit, wie wir sie kennen, die unaufhaltsam dahinfließt. Sekunden – Minuten – Tage – Jahre. So entsteht die Chronik unseres Lebens, Tag für Tag, Jahr für Jahr.

Und dann gibt es Kairos. Das ist der besondere Zeitpunkt. Der erfüllte Moment. Der Augenblick, in dem die Zeit einen Moment stehen bleibt. Der berühmte erste Blick zwischen zwei Menschen, aus dem eine große Liebe wird. Der Moment, in dem man ein Kind zum ersten Mal auf dem Arm hält. Manchmal ganz unscheinbar, solche Momente erfüllter Zeit. Glückhafte Unterbrechung der Zeit.

Als aber die Zeit erfüllt war, so schreibt der Apostel Paulus, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau (Gal 4,4). Die Geschichte von Weihnachten ist die Unterbrechung schlechthin. Der erfüllte Moment überhaupt. Seither ist die Zeit eine andere.

Wenn wir immer nur hören, was wir schon kennen, werden wir müde oder zynisch. Wenn wir uns immer nur selber wiederholen, werden wir albern. Erst wenn wir uns dazwischenreden lassen, werden wir vielleicht endlich einmal still (Christina Brudereck). Weihnachten ist das große, liebevolle Dazwischenreden Gottes.

Der Philosoph Walter Benjamin hat gesagt: „Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe.“ Das Immer-so-weiter ist das Schlimme. Wie ermüdend das ist, merken wir nicht zuletzt in Corona Zeiten. Walter Benjamin sagt weiter den bemerkenswerten Satz: „Die Rettung hält sich an den kleinen Sprung.“ Zu Weihnachten feiern wir ein kleines Kind, von dem die Engel singen, es sei der Retter. Der „kleine Sprung“ in der Geburt eines Kindes – eine Unterbrechung unseres Alltags durch Gottes große Liebe zu seinen Menschen. Durch diese Unterbrechung ist die Nacht nicht endlos. Gott kommt uns nahe.

„Unterbrechung“ – das ist die kürzeste Definition von Religion. Weihnachten ist die heilige Unterbrechung schlechthin. Es geht für Gott nicht einfach so weiter wie bisher. Und für uns Menschen auch nicht. Wir müssen nicht mehr immer nur die gleichen Nachrichten hören von Pandemie und Einschränkungen, von Terror und Gewalt. Zu Weihnachten unterbricht der Engel die stets gleichen Nachrichten: Fürchtet euch nicht. Und: Friede auf Erden. Diese Worte unterbrechen, bringen einen göttlichen Einspruch gegen alle Kriege und alles Polemisieren und Rechtbehalten. Die heilsame Unterbrechung zu Weihnachten birgt die Chance, in Gottes Geschichte der Liebe zu uns zur Ruhe zu kommen.

Weihnachten ist eine heilige Unterbrechung. Mal etwas Anderes denken. Etwas Anderes essen und etwas Anderes anziehen. Etwas Anderes erzählen. Sich anders benehmen, anders gucken, auf die Kinder, die Familie, auf das eigene Wohnzimmer, auf die Welt. Und nochmal anders denken von Gott. Gott ist Überraschung. Gott kommt überraschend – in einem Kind.

Durch diese Unterbrechung ist nicht alles anders. So wie das Weihnachtswunder 1914 den Krieg nicht beendete. Der Lauf der Zeit, des Chronos, geht weiter. Die Pandemie wird uns noch eine Weile zusetzen und Körper und Seelen belasten. Weiter wird es Krankheiten und Katastrophen geben. Aber es gilt nun die Zusage: Ihr seid in all dem nicht allein. Gott ist an Eurer Seite. Wo auch immer Du Dich ganz klein und niedrig fühlst: Genau da ist Gott. Dafür steht die Krippe, die auch schon hinweist aufs Kreuz.

Und damit ist Weihnachten eine Ermutigung zur Liebe. Eine Ermutigung zum Respekt. Eine Ermutigung dazu, dass nicht alles bleiben muss, wie es ist, sondern dass Liebe und Verständnis und Vergebung möglich sind. Wer sich von Weihnachten unterbrechen lässt, wird anders umgehen mit den Mitmenschen.

Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Seither ist die Zeit eine andere. Durch Gottes große Unterbrechung, weil er als ein Kind zur Welt kam. Für uns die Chance, zur Ruhe zu kommen, still zu werden, zu beten in dieser Heiligen Nacht und menschlich zu werden vor Gott. Und miteinander einzustehen für eine menschlichere Welt. Die Unterbrechung von Weihnachten ist das große Fest der Menschlichkeit. Als die Zeit erfüllt war, wurde Gott Mensch. Er hat damit das Menschsein geadelt. Und uns ermutigt zur Menschlichkeit.

Ich schließe dazu mit Worten von Eberhard Jüngel, einem großen evangelischen Theologen, der in diesem Jahr gestorben ist.

Der christliche Glaube verlässt sich darauf,
dass Gott Mensch geworden ist und bleibt,
damit der Mensch menschlich sein kann
und immer menschlicher werden kann.

Das Wesen des christlichen Glaubens ist
die rechte Unterscheidung zwischen Gott und Mensch,
nämlich zwischen einem menschlichen Gott
und einem immer menschlicher werdenden Menschen.

Das Wesen des christlichen Glaubens ist die Freude an Gott
und deshalb die Sorge für eine menschlichere Welt. 

Soweit Eberhard Jüngel. Freude an Gott und Sorge für eine menschlichere Welt. Dazu stiftet uns Gottes heilige Unterbrechung an. Ich wünsche Ihnen und Euch gesegnete Weihnachten!

Amen

"Binde Deinen Karren an einen Stern"

„Binde deinen Karren an einen Stern!“ Ein starker Satz von Leonardo da Vinci.

Sterne schmücken in diesen Weihnachtstagen unsere Häuser, Städte und Dörfer. Ein Stern, der Stern von Bethlehem, leitet die Weisen aus dem Morgenland zum neugeborenen Kind im Stall.

Himmelsgestirne geben Orientierung. Sie dienen der Navigation – nicht nur auf hoher See – und helfen so, zum Ziel zu finden. Selbst nicht so Sternenkundige wissen sofort, wo Norden ist, wenn der Polarstern am Himmel erscheint. So regen Sterne immer wieder dazu an zu fragen: Was gibt meinem Leben Orientierung? Welchem Leitstern folge ich auf meinem Weg?

Die Sterndeuter aus dem Morgenland machen sich auf den Weg und brechen aus dem Gewohnten auf. Ihre Geschichte ist eine vom Suchen und Finden. Sie folgen dem Stern. Eine Sehnsucht treibt sie an, eine Neugierde, der Wunsch nach Veränderung. Und sie werden am Ende fündig, weil sie ihren Karren an einen Stern gebunden haben. Sie finden das Kind in der Krippe und fallen vor ihm nieder. In diesem Kind erkennen sie, dass Gott selbst in die Welt gekommen ist, um mit der Welt einen Neuanfang zu machen. Er zeigt sein menschliches Antlitz in diesem Jesus von Nazareth und macht bereits bei der Geburt dieses Säuglings klar: Der Heiland, der Retter der Welt, er kommt ganz anders als erwartet. In einem Stall wird er geboren, umringt von armen Hirten. Wer sich von Gottes Stern leiten lässt, muss immer mit Überraschungen rechnen: Gott begegnet uns, wo und wie wir es nicht erwarten.

Ich liebe es, in Sommernächten stundenlang in den Sternenhimmel zu schauen. Am Firmament leuchten die Sterne und lassen uns Menschen ahnen, damals wie heute, was Unendlichkeit meint und dass es nicht nur unsere begrenzte Wirklichkeit gibt.

„Binde deinen Karren an einen Stern!“ Das heißt: Lass dich von einer Kraft ziehen, die nicht von dieser Welt ist, damit du die Welt verändern kannst. Dem Stern folgen meint, nach neuen Möglichkeiten zu suchen, eingetretene Pfade zu verlassen und Vertrauen zu haben in den Weg, der vorn liegt.

Unser Land steht vor enormen Herausforderungen. Nicht erst seit der Corona-Pandemie. Der Zusammenhalt der Gesellschaft, soziale Gerechtigkeit, die Bewältigung des Klimawandels, der Umgang mit Geflüchteten, der Schutz unserer Demokratie: Vieles wird zu tun sein.

Welchem Stern wollen wir dabei folgen? An welchen Werten uns orientieren? Als „Licht der Welt“ hat Gott seinen Sohn in die Welt geschickt. Damit es dort hell werden kann, wo Menschen in Angst und Sorgen leben, auch an diesem Weihnachtsfest. Und damit wir einen Fixstern haben, an dem wir unsere Navigation auch in rauer See ausrichten können. Der Stern von Bethlehem leuchtet bis heute und ermutigt zu praktischer Nächstenliebe und zu einem verantwortlichen Leben. Wer auf diesen Stern schaut, wer seinen Wagen an diesen Stern bindet, wird es etwas heller werden lassen in dieser Welt.

Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, den Mut und das Vertrauen, dem Stern von Weihnachten zu folgen. Ein gesegnetes und friedvolles Weihnachtsfest wünscht Ihnen

Ihr
Dr. Hans Christian Brandy
Regionalbischof im Sprengel Stade

Predigt über 1. Mose 11,1-9

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Der Predigttext für diesen Pfingstsonntag steht im 1. Buch Mose:

1 Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. 2 Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Babylon und wohnten daselbst. 3 Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel 4 und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde. 5 Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. 6 Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. 7 Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! 8 So zerstreute sie der HERR von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. 9 Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde. (Gen 11)

„Martin, Du bist noch stumm geschaltet.“ „Bitte das Mikrofon einschalten.“ „Du bist jetzt eingefroren.“ „Hier ist das Internet gerade ganz schlecht.“ „Wenn es nicht geht, dann schreib in den Chat.“ „Du, man versteht dich nicht.“

Menschen, liebe Gemeinde, verstehen sich nicht. Vor zwei Jahren hätte ich noch nicht gewusst, was das sein soll. Heute ist es für viele Alltag: Videokonferenzen. Begegnung und Gespräch über das Internet. Man sieht und hört sich auf dem Monitor – wenn es denn klappt. Das geschieht oft, aber eben nicht immer.

Für das Pfingstfest vorgegeben ist uns die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel. Eine Ur-Geschichte der Menschheit. Sie bietet eine erzählerische Deutung dafür, dass Menschen sich nicht verstehen. Darin ist sie eine Gegengeschichte zur Pfingstgeschichte. In der Pfingstgeschichte verstehen sich alle Menschen aus allen Ländern. Darauf komme ich später.

Zunächst aber der Turmbau zu Babel. Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Das ist hier der Anfang. Alle Menschen haben nur eine einzige Sprache – mit ein und denselben Wörtern. Alle verstehen sich. Ein paradiesischer Zustand. So scheint es jedenfalls. Aber wir sind auch hier schon „jenseits von Eden“, die Menschen machen längst ihr eigenes Ding, gar nicht paradiesisch. Und so nutzen sie nach dieser uralten Erzählung ihr gutes Verstehen, um größenwahnsinnig zu werden. Erst sind sie noch Nomaden, sie ziehen umher. Dann aber werden sie heimisch – im Zweistromland, im heutigen Irak wohl. Sie brennen Ziegel – eine der grundlegenden Erfindungen der Menschheit auf dem Weg in die Sesshaftigkeit. Sie bauen eine Stadt. Dagegen ist erstmal noch nichts zu sagen, das wird auch nicht kritisiert. Aber dann kommt der Größenwahn. Die Stadt soll einen Turm haben, der bis an den Himmel reicht. Die Menschen kennen ihre Grenzen nicht. Es wird maßlos. Und das lässt sich ja ganz leicht bis in die Gegenwart feststellen. Unser Umgang mit unserer Erde, mit der Schöpfung, mit dem Klima. Aber auch der Umgang mit unseren eigenen Kräften, mit der Gesundheit des Leibes und der Seele – wie viel Maßlosigkeit.

Maßlosigkeit geht nicht gut – das erzählt die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Und sie erzählt es wunderbar. Da bauen die Menschen einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reichen soll. Darauf reagiert die Bibel mit Ironie. Ganz stolz sind die Menschen auf ihr Turmprojekt. „Das ist der Fortschritt“. „Wie herrlich weit haben wir es gebracht“, heißt es dann bei Goethe. Gott aber schaut sich das von oben an. Aber er kann es gar nicht richtig sehen. Viel zu klein, was die Menschen da machen. „Was ist das denn?“, fragt sich Gott. „Da muss ich mal runterfahren.“ Eine sehr alte Geschichte, die sehr menschlich von Gott erzählt. Voll Ironie nimmt sie die tollen Erfolge der Menschen aufs Korn. Gott muss sich das erst mal näher anschauen. Und dann die Konsequenz: Solange die Menschen eine Sprache sprechen, werden sie immer maßloser werden. Also macht Gott dem ein Ende. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, sagt Gott. Dann wird keiner mehr den anderen verstehen. So erklärt diese alte Erzählung, dass die Menschen in unterschiedlichen Sprachen sprechen und sich nicht mehr verstehen.

Unendlich viel kann diese Geschichte erzählen. Der Bau des Turmes bis an den Himmel – das lässt sich eben leicht beziehen auf gegenwärtige ökologische Krisen. Die Turmbaugeschichte ist immer wieder genutzt worden als Grundmuster der Zivilisationskritik. Das müsste man sehr behutsam bedenken.

Heute aber steht diese Ur-Geschichte als Deutung dafür, dass Menschen sich nicht verstehen, und nur dieser Spur möchte ich folgen. Dann wird keiner mehr den anderen verstehen. Das kennen wir. Zwischen Völkern und Sprachen. Als ich vor zwei Jahren lange u.a. durch viele Länder Rad gefahren bin: Was habe ich es bedauert, dass ich nicht mehr Sprachen kann, wie viel an Begegnung und Verstehen wäre da möglich gewesen.

Keiner wird den anderen mehr verstehen. Wo erleben wir das nicht noch?! Die Familie, die nicht zusammenkommen kann, nachdem die Mutter gestorben ist. Seit langem sind sie zerstritten. Sie reden schon lange nicht mehr miteinander. Keiner wird den anderen mehr verstehen.

„Martin, Du bist eingefroren!“ Das gibt es derzeit nicht nur in Videokonferenzen. Das erleben gerade in dieser Coronazeit Menschen auch ganz anders. Sie fühlen sich wie eingefroren, weil es keine Begegnung mehr gibt, keinen lebendigen Austausch, der Energie schenkt. „Die Coronazeit hat mir meine Ressourcen abgeschnitten“, sagt mir jetzt jemand, „das, was meiner Seele Kraft gibt“. Und dann knickt bei mancher die Seele ein, ist belastet oder wird wirklich krank. Wie eingefroren. Das ist im Moment nicht selten. Keiner wird den anderen mehr verstehen.

Auch in der Kirche erlebe ich das. Konflikte, Streit gar. Nicht-Verstehen. Da haben Leute einen Plan gemacht, ein ehrgeiziges Projekt, einen schön gemauerten Turm sozusagen, ziemlich hoch. Dann haben andere Fragen daran. Wollen das noch mal diskutieren. Und es gibt Kränkungen. Missverständnisse, Streit. Keiner wird den anderen mehr verstehen.

Viel ernster noch: Da reden wir von unserem Glauben – und Menschen verstehen es nicht, und zwar weil sie die Sprache gar nicht mehr verstehen. „Gott“. „Glaube“. Viele Worte sind ganz fremd. Fragen Sie mal, was die Menschen mit „Pfingsten“ oder mit „Heiliger Geist“ anfangen können. So gut wie nichts. Eine Religionslehrerin, die mit jungen Auszubildenden in der Berufsschule arbeitet, hat mir gerade noch einmal erzählt, wie unverständlich unsere christliche Sprache für viele ist. Wie sie da übersetzen muss, nach allgemein verständlichen Worten suchen muss. Das ist schwer. Keiner wird den anderen mehr verstehen.

Aber nun feiern wir heute Pfingsten. Und Pfingsten – das ist das Fest des Verstehens. So erzählt es die Pfingstgeschichte, die wir gehört haben. Das jüdische Laubhüttenfest 50 Tage nach dem Passah, unserem Ostern. Die entstehende christliche Gemeinde ist versammelt, sie werden erfüllt vom Heiligen Geist, von der Geistkraft Gottes. Sie fangen an zu predigen – und das Wunder geschieht: Menschen aus allen Ländern verstehen sie. Lang ist die Liste: Parther und Meder und Elamiter, Leute aus Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, Phrygien und Pamphylien, Ägypten… in Libyen und Römer, Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unseren Sprachen die großen Taten Gottes verkünden.

Das Ende der Sprachverwirrung. Keiner wird den anderen mehr verstehen - das ist überwunden. Alle verstehen, wie von den großen Taten Gottes gesprochen wird. Und weil das immer wieder geschieht, deshalb gibt es die Kirche Jesu Christi auf der ganzen Welt. Menschen aus allen Ländern und Kulturen, mit verschiedenen Sprachen, verstehen sich und sind gemeinsam Kirche.

Das geschieht nicht immer. Deshalb gibt es das bis heute zuhauf: Keiner wird den anderen mehr verstehen. Aber wo der Geist Gottes wirkt, da entsteht Verstehen, da entsteht Gemeinschaft über Grenzen hinweg.

Wo der Geist Gottes wirkt, da werden Menschen gepackt vom Wort Gottes. Und nur, wo Gottes Geist wirkt und Verstehen im Kopf und mehr noch im Herz schenkt. Wo der Geist Gottes wirkt, da werden Menschen getröstet, weil ihnen Gottes Liebe und Gottes Nähe zugesagt wird, für die Jesus Christus steht.

Ich sprach davon, dass die Worte des Glaubens heute für viele eine Fremdsprache sind. Ja, das ist so, und das ist eine tüchtige Herausforderung für alle, die von Gott reden wollen und sollen. Wir sollen uns Mühe geben so gut es geht, ja. Aber ich glaube, ich selbst könnte gar nicht predigen, wenn ich meinen müsste, alles hinge von meinen Worten und meinem Sprachgeschick ab. Wer vom Glauben redet, darf darauf vertrauen, dass Gottes Geist selbst Verstehen schenkt und Menschenherzen berührt.

Ich habe in diesem Halbjahr viele Ordinationen, darf also viele junge Pastorinnen und Pastoren für ihren Dienst beauftragen und segnen. Mit großer Freude entdecke ich, wie unterschiedliche Begabungen sie haben, was für unterschiedliche Typen sie sind. Alle reden auf ganz verschiedene Weise von unserem Glauben an Jesus Christus. Einer hat eine sehr kluge Doktorarbeit geschrieben und den Glauben sehr scharfsinnig durchdacht. Eine andere hat ihren Ordinationsspruch als Tattoo auf ihrem Arm und ist völlig begeistert, in der Berufsschule mit Schülerinnen und Schülern vom Glauben zu reden, die die klassische Sprache eben nicht verstehen. Vielsprachig wird von Gott gesprochen – das ist nötig in unseren Zeiten. Überall, wo das gelingt - das sind für mich kleine Pfingstwunder.

„Man kann dich gerade nicht hören.“ „Du, man versteht dich nicht.“ Begonnen habe ich mit der hakenden Videokonferenz. Aber auch in Videokonferenzen und im Internet gibt es sehr viel Verstehen. Im Digitalen haben wir eine ganze neue Technik, wenn man so will, eine ganze neue Sprache gelernt in den letzten zwei Jahren. Durchs Internet werden Menschen erreicht für die Verkündigung des Evangeliums, die wir früher nicht erreichten. Auch das ist für mich eine Pfingstgeschichte. Neulich hatten wir eine Tagung, die nun nicht leibhaftig, sondern digital stattfinden musste. Zum Abschluss gab es einen Gottesdienst mit gemeinsamem Abendmahl. Anders, als es sonst gewesen wäre, waren Menschen aus etlichen Ländern dabei, aus Südafrika, Tansania, der Schweiz. Eine neue Form des Verstehens. Das war über das Internet eine sehr intensive, eine dichte und berührende Gemeinschaft. So wirkt Gottes Geist. Und so möge er weiter wirken unter uns. Damit viele Menschen sagen können: Wir hören in unseren Sprachen die großen Taten Gottes verkünden.

Amen.

Ein Krankenhaus im Elsass. Täglich stehen schwerkranke Menschen vor der Tür. Heilung und Linderung ihrer Schmerzen erhoffen sie sich in diesem Spital. Getrieben von Angst und Sorge um ihr Leben sind sie hierhergekommen. Nein, es ist nicht das Corona-Virus, das hier Menschenleben gefährdet. Wir schreiben das Jahr 1512. Ein junger Maler, Matthias Grünewald, will dem Leid und Elend der Kranken im Isenheimer Krankenhaus Hoffnungsbilder entgegenstellen. Für die Kirche des Spitals gestaltet er einen Altar mit Bildern, die bis heute nichts von ihrer Ausdrucksstärke verloren haben.

Grünewald malt die Kreuzigung, den Tod Jesu, in einer bis dahin nicht gekannten Eindringlichkeit. So können die Leidenden sich in diesem geschundenen Jesus von Nazareth wiedererkennen und darin Trost finden, dass Gottes Sohn auch im Leiden bei ihnen ist.

Ebenso eindrücklich stellt Grünewald die Auferstehung Jesu dar. Er taucht sie in Farbe und Licht. Für mich ist dieses Bild vom Isenheimer Altar, dieses Trost- und Hoffnungsbild für die Erkrankten, eines der wunderbarsten Osterbilder. Denn es stellt dar, was wir zu Ostern feiern, auch in diesem Jahr, gerade auch im Angesicht der Pandemie: Das Leben siegt über den Tod. Gott hat dem Tod ein für allemal die Macht genommen.  

Diesen Auferstehungs-Schwung hat Grünewald genial in Szene gesetzt mit dem lichten Körper Jesu. Er trägt noch die Wundmale der Kreuzigung und damit die Zeichen des zerbrechlichen Lebens. Aber die Kraft Gottes hat den Tod überwunden. Das Leichentuch verbindet Jesus noch mit dem offenen Grab, aber dieses Tuch aus gelb, orange, rot und blau nimmt leuchtend die Farben des Regenbogens an. Es ist zum Königsmantel geworden. So sieht Verwandlung aus. So versteht ja auch die Bibel Auferstehung. Nicht Verlängerung des irdischen Lebens, sondern Verwandlung.

Der Auferstandene blickt uns als Betrachtende direkt an, offen und freundlich, seine Hände mit den Wundmalen zum Segen erhoben. Sein Kopf ist das Zentrum des strahlenden Lichtes: Der Auferstandene ist die Sonne der Welt, die hineinleuchtet in all unsere Dunkelheit.  

In diesem Jahr sehnen wir uns wohl noch mehr als sonst nach Licht und Sonne, Hoffnung und Leben. Krankheit und Tod sind nicht verschwunden. Natürlich nicht. Sie bedrängen uns sehr. Aber die Angst ist gebrochen durch die Botschaft von Ostern: Das Leben ist stärker. Gott ist stärker als der Tod.

Weil wir dies an Ostern feiern, gilt: Christenmenschen sind Protestleute gegen den Tod. Wer das Geheimnis von Ostern feiert, der kann die Angst vor dem Tod in Sorge für das Leben verwandeln. Derzeit durch große Vorsicht, durch Besonnenheit und durch Ausdauer in belastenden Zeiten.

Matthias Grünewald hat den Menschen aller Zeiten die Osterhoffnung eindrücklich vor Augen gemalt. Sein Bild hat nichts von seiner Strahlkraft verloren. Am Ostermorgen leuchtet das Leben in lichten Farben.

Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ein gesegnetes und helles Osterfest!

Regionalbischof
Dr. Hans Christian Brandy, Stade

„Dieses Jahr hat manche persönliche Leidensgeschichte geschrieben“

Herr Dr. Brandy, die Tage vor Ostern sind für die Kirchen eine der wichtigsten Wochen im Jahr. Wie schauen Sie auf die bevorstehenden Feiertage?
Hans Christian Brandy: Wir feiern in diesem Jahr zum zweiten Mal unter Corona-Bedingungen die Karwoche und das Osterfest. Im letzten Jahr waren Präsenzgottesdienste verboten. In diesem Jahr dürfen nach aktueller Lage Gottesdienste stattfinden.  Darüber bin ich froh. Die Gemeinden entscheiden jetzt jeweils nach Lage vor Ort, was sie machen. Es ist selbstverständlich, dass in der aktuellen Lage alles getan werden muss, um weitere Infektionen zu vermeiden. Aber wir haben sehr detaillierte Hygienekonzepte, die seit Langem bestens bewährt sind und professionell umgesetzt werden. Deshalb halten wir Präsenzgottesdienste für gut vertretbar. Gerade in dieser Zeit der Belastung und auch der Einsamkeit sind Gottesdienste für viele Menschen sehr wichtig. Andere Gemeinden verzichten auf Präsenzgottesdienste. Sie setzen dann auf andere Formate. Es gibt eine Fülle neuer und kreativer Ideen: Kurze Gottesdienste im Freien, Internet-Formate, Oster-Wege, Postkarten-Aktionen, geöffnete Kirchen für Gebet von Einzelnen. So spannungsvoll und anstrengend die Situation für die Gemeinden auch ist: Dieser Reichtum ist ein Schatz.

An den schwankenden Vorgaben der Politik gibt es derzeit viel Kritik. Was meinen Sie dazu?
Brandy: Es ist offensichtlich, dass gesellschaftlich und politisch die Spannungen größer werden. Das überrascht mich nicht angesichts der dramatischen Problemlage: Da sind einerseits die Existenzsorgen von Unternehmen und Einzelnen, gewaltige Belastungen für Familien und Kinder, für Pflegepersonal, Erzieherinnen und viele andere. Und da ist die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und Begegnung. Dagegen aber steht die zwingende Notwendigkeit, der dritten Welle entschlossener zu wehren, um Menschen vor Krankheit und Tod zu schützen. Die politisch Verantwortlichen suchen zwischen diesen Polen mühsam einen Weg. Längst nicht alles gelingt, Fehler sind offensichtlich. Kritik daran ist in einem freien Land selbstverständlich. Die verbreitete Häme gegenüber den Regierenden finde ich aber falsch. Allen, die Verantwortung tragen, gebührt Dank und Respekt, der sich auch in kritischem Dialog äußert. Als Kirchen sind wir insgesamt dankbar für ein konstruktives Miteinander mit den politisch Verantwortlichen in unserem Land. Wir schließen sie weiter ein in unsere Fürbitte und unterstützen, wo wir können.

Wir gehen jetzt in die Passionswoche mit dem Karfreitag. Welche Botschaft geht heute vom Tod Jesu am Kreuz aus?
Brandy: Ich glaube, dass vieles von dem, was in den biblischen Geschichten über das Leiden von Jesus erzählt wird, Menschen in den zurückliegenden Monaten in ihrem eigenen Leben erfahren haben.

Woran denken Sie da?
Brandy: Jesus hat geweint, er hatte Angst und war verzweifelt. Auch bei vielen von uns sind Tränen geflossen in dieser Corona-Zeit. Angehörige und nahe Menschen sind gestorben und viele konnten sich nicht so von ihnen verabschieden, wie sie es gewünscht hätten. Etliche sind selbst erkrankt und bangten um ihre Gesundheit. Die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Existenz sind bei vielen gewachsen. Immer wieder höre ich, dass Menschen an der Grenze ihrer Kräfte sind, durch mehrfache Belastung bei der Arbeit, Versorgung der Kinder, Home-Schooling, Pflege von Angehörigen. Und durch die Isolation. Dieses Jahr hat manche persönliche Passionsgeschichte geschrieben.

Das Selbstverständnis der Kirche ist es, gerade in Krisenzeiten Trost und Hoffnung zu geben. Steckt für Sie auch etwas davon in der Leidensgeschichte Jesu?
Brandy: Noch in der Nacht vor seinem Tod betet Jesus, dass Gott ihm Leid und Tod ersparen möge. Vergebens. Und doch liegt gerade in dieser Geschichte für mich auch ein Trost. Menschen fühlen sich verlassen, vielleicht auch von Gott. So erging es Jesus auch.  Er hat am Kreuz geschrien: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘ Mehr Gottesferne geht wohl nicht. Aber es kann tröstlich sein, dass wir Gott unser Leid klagen können, ja, ihn sogar anklagen können für das, was uns widerfährt. Das ist für mich eines der tiefsten Geheimnisse des Glaubens: Auch in der Gottesferne und im Glaubenszweifel weiß ich mich bei Gott gehalten. Gott ist solidarisch mit uns in unserem Leiden. Vom Leiden Jesu erzählen wir, weil auch darin Gott ist. Und weil dann Ostern kommt.

Werden wir in diesem Jahr Ostern anders feiern als in den Jahren zuvor?
Brandy: Vielen von uns ist in den letzten Monaten deutlich geworden, wie zerbrechlich unser Leben ist. Den Schmerz über die mehr als 75.000 Verstorbenen in unserem Land haben wir gemeinsam zu tragen. Gerade das gehört in diese Karwoche für mich mit hinein. Aber auch füreinander Verständnis zu haben und barmherzig miteinander umzugehen. Einander Fehler zu vergeben. Daher wird in diesem Jahr Ostern anders sein. Vielleicht werden wir intensiver erleben, dass nach der Dunkelheit von Karfreitag das Licht von Ostern scheint und den Sieg des Lebens verkündet.

Was möchten Sie den Menschen zu Ostern sagen?
Brandy: Leiden, Sterben und Tod haben nicht das letzte Wort. Jesus hat den Tod besiegt. Das feiern wir an Ostern. Auch in diesem Jahr. Vielleicht brauchen wir diese Botschaft jetzt besonders, da Leid und Schmerz so spürbar sind. Ostern ist das Fest des Lebens. Diese Hoffnung kann uns im Angesicht weiterhin schwerer Herausforderungen Mut machen. Und wir brauchen gerade jetzt Hoffnung, damit wir einen langen Atem haben für die vor uns liegenden Aufgaben. Das Leben siegt. Das ist die wunderbare Oster-Botschaft: Aus dieser Hoffnung heraus können wir kreativ und mutig sein, um das Miteinander zu stärken bei zunehmender Verzagtheit.

Hans Christian Brandy (62) steht als Regionalbischof den gut 200 evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden zwischen Elbe und Weser vor und ist seit 2010 im Amt.

Das Interview führte Sonja Domröse, Pressesprecherin Sprengel Stade

An die Kirchenvorstände und Pfarrämter in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers

26. März 2021

„Gott, nach deiner großen Güte
erhöre mich mit deiner treuen Hilfe.“ Ps 69

Liebe Schwestern und Brüder,
die Karwoche beginnt. Ein Jahr Corona. Ein Jahr kirchliches Leben mit schmerzli-chem Verzicht an Nähe und Begegnung, an Gesang und Musik, an Fest und Feier. Ein Jahr voller schwieriger Entscheidungen und großer Anstrengungen. Die Dauer zehrt an Nerven und Kräften. Viele sind müde, manche auch wütend – und oft beides zugleich.

Ein Jahr aber auch mit vielfältigen neuen Ideen und ungeahnter Kreativität: Neue oder rasch weiterentwickelte Formen von digitaler Begegnung, Gottesdienste im In-ternet und in ganz anderen Formen, vielfältige Treffen im Freien, zahlreiche Beispiele gelebter Nächstenliebe. So viele Fresh expressions of church gab es bei uns noch nie. Für all das große Engagement in den letzten Monaten danken wir Ihnen sehr herzlich. Allen, die mit viel Phantasie und Einsatz ihren Beruf unter veränderten Be-dingungen ausüben. Und besonders auch Ihnen allen, die ehrenamtlich in diesen Zeiten besondere Lasten zu tragen haben und ohne die das kirchliche Leben unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht laufen könnte. Danke!

Nun stehen die Festtage in der Karwoche und zu Ostern vor uns. Vor einem Jahr wa-ren Gottesdienste verboten. Im Jahr 2021 sind sie nach heutigem Stand zulässig. Die Bitte der Politik, auf Präsenzgottesdienste zu verzichten, wurde zurückgezogen. Gleichwohl sehen wir uns in der Pflicht, alles zu tun, um Infektionen zu verhindern. In unseren Gemeinden haben wir seit Langem eingeübt, Gottesdienste unter strengen Hygienebedingungen zu feiern. Nicht nur Weihnachten hat gezeigt, dass das sicher möglich ist – es ist kein Fall von Infektionen bekannt geworden. Zudem verbessern wir die Verfahren kontinuierlich.

Wir hören jetzt Voten mit unterschiedliche Stoßrichtung. Die einen votieren entschie-den dafür, aus Sicherheitsgründen auf Präsenzgottesdienste zu verzichten. Andere bitten uns dringend, für solche Gottesdienste einzutreten, gerade zu den kommen-den hohen Feiertagen. Wir halten es für wichtig, dass, dass wir bei unterschiedlichen Positionen miteinander verständnisvoll und versöhnlich umgehen.

Wir wissen, dass wir Ihnen einiges zumuten, wenn die Debatte in den Kirchenge-meinden verbleibt. Wir hören immer wieder Bitten, zusammen mit dem Landeskir-chenamt eine verbindliche Vorgabe für die gesamte Landeskirche zu machen. Weit überwiegend war allerdings die Zustimmung zu der Linie, die Entscheidung vor Ort zu treffen.

So ermutigen wir Sie zu Gottesdiensten in leiblicher Präsenz und unter sorgfältiger Beachtung aller Sicherheitsregeln. Für viele Menschen sind Gottesdienste besonders in diesen schwierigen Tagen wichtig, besonders dann, wenn sie keine Möglichkeit haben, digitale Angebote zu empfangen. Diese Gottesdienste, so hören wir, werden oftmals in kleiner Zahl im Außenbereich stattfinden und eine überschaubare Dauer haben. Viele Gemeinden haben gute Erfahrungen in den vergangenen Monaten mit solchen Formaten gemacht.

Etliche Gemeinen haben auch entschieden oder werden entscheiden, aus Sicher-heitsgründen keine Präsenzgottesdienste zu feiern. Sie werden andere Formate an-bieten. Auch dafür gibt es gute Gründe. Es gilt weiterhin: Was immer Sie nach bes-tem Wissen und Gewissen für Ihre Gemeinde entscheiden, tragen wir mit. Die Ent-scheidungen, die Sie vor Ort treffen, kann und darf Ihnen niemand abnehmen. In die-ser Eigenverantwortung unterstützen wir Sie ausdrücklich.

Selbstverständlich begrüßen wir auch alle anderen Formen, im Internet, an dezentra-len Orten, im Freien, auf Treckern oder wo immer. Diese Vielfältigkeit ist ein großer Schatz.

Am Palmsonntag endet die berührende Geschichte der Salbung Jesu im Hause Si-mon des Aussätzigen durch eine unbekannte Frau mit einem Ruf Jesu. Wie Ihr auch feiert, seid gewiss:
„Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.“

Eine gesegnte Karwoche und ein hoffnungsfrohes Osterfest!

Ralf Meister
Dr. Petra Bahr
Dr. Hans Christian Brandy
Dr. Detlef Klahr
Dieter Rathing
Friedrich Selter

Regionalbischof Brandy ermutigt zur Teilnahme an „Aktion Lichtfenster“

Stade/Elbe-Weser-Raum. Regionalbischof Hans Christian Brandy (Stade) ruft Menschen im gesamten Elbe-Weser-Raum dazu auf, sich der bundesweiten „Aktion Lichtfenster“ anzuschließen. „Gerne nehmen wir als evangelische Kirche die Anregung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf, ein Licht zum Gedenken an die Opfer der Corona-Pandemie ins Fenster zu stellen.“

Jeweils Freitagabends mit Beginn der Dämmerung gilt die Einladung, eine Kerze sichtbar ins Fenster zu stellen. Der Bundespräsident beabsichtigt, die Aktion mindestens bis April fortzusetzen. Er hat zudem eine bundesweite Gedenkveranstaltung für die Opfer in der Pandemie angeregt.

„Mit den ,Lichtfenstern‘ verbinden wir das Gedenken an all die Menschen, die an Covid-19 in den letzten Monaten verstorben sind“, so der leitende Theologe für das Elbe-Weser-Dreieck. Eine öffentliche Trauerkultur sei angesichts der großen Verstorbener wichtig für unsere Gesellschaft. Hinzu komme: „Viele sind einsam gestorben, weil Besuche im Krankenhaus oder Pflegeheim nicht möglich waren. Das war und ist für Sterbende, ihre Angehörigen und auch für das Pflegepersonal eine extreme Belastung.“ Aber auch für an Corona-Erkrankte und ihre Familien sei die Situation noch immer beängstigend. „Wir denken aber auch an alle anderen Verstorbenen und ihre Familien, die seit Beginn der Pandemie unter Corona-Bedingungen bei Beerdigungen nur im kleinsten Kreis Abschied von ihren Lieben nehmen mussten. Auch das ist schwer.“

Mit der „Aktion Lichtfenster“ solle, so Brandy, eine öffentliche Sichtbarkeit erreicht werden. „Das Licht steht für Christinnen und Christen aber auch für den Glauben daran, dass das Leben stärker ist als Tod. Das Licht der Osterkerze erinnert uns an die Auferstehung Jesu und damit an unsere Hoffnung, die über den eigenen Tod hinausgeht.“ Gerade in den kommenden Wochen der Passions- und Osterzeit könne dies ein ermutigendes Signal und ein tröstendes Symbol sein.

In den Sozialen Medien können auf den Kanälen der hannoverschen Landeskirche unter #Lichtfenster künftig an jedem Freitag Fotos veröffentlicht werden. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat zudem unter www.ekd.de/aktion-lichtfenster-62441.htm eine Themenseite zur Aktion zusammengestellt.

Sonja Domröse, Pressesprecherin Sprengel Stade

„Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Lukas 6,36

Der ungewöhnlichste Jahreswechsel seit Langem. Ein verrücktes Jahr liegt hinter uns, seitdem die Corona-Pandemie über uns hereinbrach. Und noch mehr als zu jedem Jahresbeginn liegt die persönliche und gesellschaftliche Zukunft im Ungewissen. Denn das Leben läuft eben derzeit so gar nicht in vertrauten Bahnen. Werden wir zur Normalität zurückfinden, oder bleibt alles ganz anders?

Die Corona-Pandemie hat viele vermeintliche Gewissheiten erschüttert, denn sie hat gezeigt, wie verletzlich unser Leben ist und bleibt. So schauen viele von uns auch mit bangem Blick in das neue Jahr.

In diese Situation spricht die biblische Jahreslosung für das Jahr 2021 für mich besonders. Sie stammt aus der „Feldrede“ bei Lukas, der Parallele zur bekannten Bergpredigt bei Matthäus. Jesus spricht auf einem Feld zu einer großen Menschenschar. „Und alles Volk suchte ihn anzurühren, denn es ging Kraft von ihm aus und heilte sie alle.“ (Vers 19) Heilung geschieht hier durch die Kraft, die Jesus verströmt. Wo Menschen Gott begegnen und vertrauen, da erfahren sie eine solche heilsame, lebensförderliche Energie Gottes. Wie dringend brauchen wir die, gerade in diesen Zeiten.

Diese Energie wird dann näher beschrieben. Es ist die Kraft der Liebe: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Die Energie der Barmherzigkeit – sie kann das Leben verändern. Und das brauchen wir.

„Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“  Das hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am Beginn des Corona-Ausbruchs gesagt. Das stimmt. Es stimmt immer, und es stimmt derzeit besonders.

Leider ist das gar nicht selbstverständlich. Es herrscht allerorten „die große Gereiztheit“ (Bernhard Pörksen). Dass bei manchen nach Monaten im Ausnahmezustand die Nerven angespannt sind, kann man – barmherzig! - verstehen. Nicht akzeptieren kann ich aber, wenn Medien, die als „soziale Medien“ doch dem Miteinander dienen sollen, zu Tummelplätzen für Hassreden, Beleidigungen und Verschwörungen werden. Rechthaberei und Unbarmherzigkeit werden keine Heilung in Krisen bewirken. Wir dürfen uns an diesen Ton nicht gewöhnen. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Jesus verbindet den Ruf zur Barmherzigkeit mit der schlichten Mahnung: „Richtet nicht“, und das können wir alle im Alltag Tag für Tag umsetzen.

Wir dürfen uns aber auch nicht die Perspektive verrücken lassen. Barmherzigkeit haben gerade in der Krise Viele gezeigt: in der Pflege in Altenheimen und Krankenhäusern. Aber auch indem wir andere schützten, in den Nachbarschaften und Gemeinden spontan und kreativ Hilfen ermöglichten. Weit ab von manchen schrillen Tönen ist die Corona-Zeit längst zu einer Erfahrungszeit gelebter Barmherzigkeit geworden.

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Es ist kein moralischer Appell, den Jesus an seine Gemeinde richtet. Er erinnert uns vielmehr daran, dass wir alle immer wieder Barmherzigkeit und Gnade erfahren haben. Aus dieser Kraft leben wir. Weil Gott die Liebe ist.

Und eben deshalb, weil wir Barmherzigkeit zuerst selbst erfahren und Gott „Vater“ nennen dürfen, deshalb können wir auch von dieser Kraft weitergeben. Bei all den Herausforderungen, vor die wir im Jahr 2021 gestellt sind, brauchen wir Kräfte, die heilen. Natürlich hoffen wir sehr auf einen medizinisch wirksamen Impfstoff, unbedingt. Aber wir brauchen auch Heilung für unser Miteinander. Darf man das sagen: Barmherzigkeit – das ist ein Impfstoff für die Seele? Ich jedenfalls glaube daran.

Ein gesegnetes Jahr 2021!

Ihr Hans Christian Brandy

Offenbarung 21, 1-5

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Für die Predigt hören wir auf eine der Lesungen für diesen letzten Sonntag im Kirchenjahr, den Toten- und Ewigkeitssonntag. Sie steht im vorletzten Kapitel der Bibel, Offenbarung 21:

1 Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. 2 Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. 3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; 4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. 5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!

Liebe Gemeinde,

Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, so hören wir. Auch in diesem Jahr sind viele Tränen geweint worden. Viele sind heute gekommen, um noch einmal zu denken an liebe und wichtige Menschen, die in diesen letzten zwölf Monaten von uns gegangen sind. Da sind viele Tränen geweint worden. Manche sind inzwischen getrocknet, manche auch noch gar nicht. Manche Trauer hat sich ein wenig gesetzt, andere ist noch immer oder jedenfalls immer wieder wie eine schmerzende Wunde.

Auch ich denke an liebe Menschen, an deren Grab ich in diesem Kirchenjahr gestanden habe. An meine Lieblingspatentante, die für uns wie eine Mutter war – 95 hat sie werden dürfen. Aber auch an einen meiner langjährigsten Freunde. Nur drei Jahre älter als ich war er. Krebs.

Jeder Mensch, an den wir heute denken, war einzigartig, jede Beziehung war einzigartig, jeder Abschied war einzigartig. Und auch jede Trauer ist einzigartig.

Als ich vor über dreißig Jahren mein Examen gemacht habe, haben wir noch gelernt, es gebe vier Phasen der Trauer. Eine erste Phase des Schocks, dann eine Phase der inneren Kontrolle, oft um die Beerdigung herum. Danach eine Phase der tiefen Trauer und Desorientierung, oft sehr schwer. Und schließlich eine Phase der langsamen Anpassung an die neue Lebenssituation. Heute wissen wir: So schematisch läuft das nicht. Trauerprozesse sind ganz individuell – jeder und jede findet eigene Wege, Trauer zu durchleben und auch zu zeigen. Und das darf so sein, es gibt nicht richtig und falsch. Nur zu einem wird es immer führen müssen, nämlich damit zu leben, dass dieser Mensch nun nicht mehr unter uns ist und wir ohne ihn oder sie leben müssen und auch leben können.

An diesem Tag bringen wir unsere Erinnerungen und unsere Trauer noch einmal vor Gott. Und auch alle unsere Gefühle, die manchmal auch widersprüchlichen und chaotischen Emotionen. Ganz viel Trauer. Ganz viel Dankbarkeit gewiss in Blick auf die vielen, die lebenssatt nach einem erfüllten Leben gestorben sind und die unser Leben reich gemacht haben. Aber auch Schmerz und Klagen über den Tod vor der Zeit. Manchmal aber auch Erleichterung, die man sich vielleicht nicht recht eingestehen mag, wenn es ein langer und schwerer Weg der Begleitung und Pflege war. Bisweilen auch Schuldgefühle. Aber auch harte Erinnerungen an Verstorbene; zu den Erinnerungen können ja auch Verletzungen gehören. Alle Gefühle gibt es. Alle Gefühle dürfen sein.

Viele Tränen sind geflossen. Manche sind getrocknet, andere fließen noch immer oder immer wieder. Da hinein hören wir nun diese Worte, diese einzigartige Verheißung Gottes: Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein. Als christliche Gemeinde feiern wir den Totensonntag oder Ewigkeitssonntag in einer anderen Perspektive. Wir hören auf die Verheißungen der Bibel, die unsere Trauer und unser Gedenken in einen besonderen Rahmen stellen.

Diese Perspektive richtet sich einmal auf unsere Verstorbenen, auf jeden und jede einzelne. Der christliche Glaube schenkt die Zuversicht, dass sie nicht einfach fort sind, sondern dass sie bei Gott sind und bei ihm ewig leben. Wir begehen den Ewigkeitssonntag immer im Licht von Ostern. Das Grunddatum unseres christlichen Glaubens ist, dass Gott den gekreuzigten und gestorbenen Jesus von den Toten auferweckt hat. Seither hoffen wir darauf, dass das Leben immer größer ist als der Tod. Auch für unsere Verstorbenen. „Gott hat Christus auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft“, sagt Paulus (1. Kor 6,14). Oder ganz einfach im Johannesevangelium, wo Jesus sagt: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ Das dürfen wir glauben für unsere Verstorbenen und einmal auch für uns.

Wie soll man sich das vorstellen? Ich denke, gar nicht. Die Bibel gebraucht viele verschiedene Bilder dafür. Paulus verwendet das Bild des Schlafes, aus dem man wieder aufgeweckt wird (1.Thess 4,13ff). Oder die Heilige Schrift spricht davon, dass in Gottes Haus „viele Wohnungen“ (Joh 14,2) auf uns warten. Für meinen Freund, den ich erwähnte, war das in seinem Zugehen auf den Tod ein großer Trost: Dass Christus uns durch den Tod vorausgegangen ist und dass dort bei Gott Raum ist, ein Raum zu leben. In der Hoffnung und Zuversicht auf diesen Raum bei Gott konnte er sterben.

Ein weiteres Bild haben wir vorhin als Epistel gehört. Paulus gebraucht das Bild des Samens, der in die Erde gelegt wird und in neuer, ganz anderer Gestalt weiterlebt. Dieses Bild macht schön deutlich, dass es eine vollständige Verwandlung sein wird und nicht einfach irgendwie eine Verlängerung dessen, was wir hier kennen. Es wird ein unvergängliches Leben in Herrlichkeit sein. Ich zitiere noch einmal Verse von Paulus: So, wie aus einem Samenkorn eine Pflanze hervorgeht, so auch die Auferstehung der Toten. Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft. Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib. Herrlichkeit und Kraft, darauf dürfen wir uns freuen, sagt Paulus. Aber wie wir uns das vorstellen können – das bleibt verborgen, da soll man auch nicht spekulieren, jedenfalls nicht im Namen des christlichen Glaubens. Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI., hat das einmal sehr schön ausgedrückt, wie ich finde: Wir können nur „ahnen, dass Ewigkeit nicht eine immer weitergehende Abfolge von Kalendertagen ist, sondern etwas wie der erfüllte Augenblick, in dem uns das Ganze umfängt und wir das Ganze umfangen. Es wäre der Augenblick des Eintauchens in den Ozean der unendlichen Liebe, in dem es keine Zeit, kein Vor- und Nachher mehr gibt. Wir können nur versuchen zu denken, dass dieser Augenblick das Leben im vollen Sinn ist, immer neues Eintauchen in die Weite des Seins, indem wir einfach von der Freude überwältigt werden.“

Nun bin ich ausgegangen von der großen Vision in Offenbarung 21 von einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Da richtet sich die Hoffnung der Christen nicht nur auf die Zukunft des Einzelnen, davon habe ich bisher gesprochen, sondern auf die Zukunft des Ganzen. Kleiner macht es die Bibel nicht, und ich will das nicht unterschlagen. Gott will eine neue, eine verwandelte Welt erschaffen, nicht auf dieser Erde, sondern in einer anderen Dimension. Ich will es nicht unterschlagen, weil ich glaube, dass diese Bilder uns große Hoffnung und Kraft geben können. Und zwar zum Leben hier und heute.

In Offenbarung 21 sagt der Seher Johannes, dass im Himmel, in Gottes Zukunft alle Tränen abgewischt werden und Not, Leid, Tod ein Ende haben. Darin liegt ein tiefer Trost! Wie viel Not sehen wir hier auf der Erde! Wir sehen die Opfer der Kriege in der Ukraine, in Israel, in Gaza. Wir sehen all die hungernden, verletzten, missbrauchten Kinder und können nur rufen: Herr, erbarme dich. Wir sehen unser Versagen mit Blick auf Leid, wenn Menschen krank sind, behindert, arm in unserem Land und können allzu oft nicht heilen. Nur den Schmerz können wir teilen und rufen: Herr, erbarme dich. Wir sehen das Sterben, den Tod, all den Schrecken, den er verbreitet und können allzu oft nur mitweinen und wenig trösten. Der Tod in der Familie, im Freundeskreis, er verbreitet Trauer und Schrecken. Das Elend im Großen, in der Welt insgesamt, es lähmt uns allzu oft. Uns bleibt nichts, als eine Hand zu halten und zu rufen: Herr, erbarme dich!

Der Glaube an Gottes zukünftige Welt aber macht uns Mut, dem Tod zu begegnen, der Verletzlichkeit des Lebens. So können wir Trauernde trösten, die Endlichkeit unseres eigenen Lebens nicht verdrängen, sondern annehmen, dass es begrenzt ist, vielleicht 70 Jahre währt, wie der Psalm sagt, den wir gebetet haben, und wenn es hochkommt, 80 Jahre.

Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein. Der auferstandene Jesus Christus selbst sagt: Siehe, ich mache alles neu. Natürlich, da sind wir heute nicht, vieles ist nicht neu, sondern verflixt alt und morsch. In unserer Welt, in unserer Kirche – auch da haben wir Probleme genug – in meinem und vermutlich auch in deinem Leben. Aber im Vertrauen auf die Zukunft unseres Gottes, der heute bei uns ist, müssen wir nicht mutlos sein, sondern können Tag für Tag tun, was möglich ist. Können einstehen für eine menschenfreundliche Welt, für Barmherzigkeit. Können uns engagieren für unsere Kirche und Gemeinde, auch in schwierigen Zeiten. Für eine Welt, in der sich das Leben von Menschen entfalten kann. Im Licht von Ostern, im Licht des Ewigkeitssonntags sind Christenmenschen Leute des Lebens, Leute der Nächstenliebe, Protestleute gegen den Tod.

Und so können wir leben in dem Wissen, dass unser Leben endlich ist, und doch in großer Zuversicht. Zu den Menschen, an deren Grab ich in diesem Jahr gestanden habe, gehörte auch unser früherer Landesbischof Horst Hirschler. Er ist wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag gestorben. Schon zehn Jahre vorher hatte er eine schwere Krebserkrankung überstanden. Er ging damit sehr offen und transparent um. Als er vor einigen Jahren 85 wurde, gab es noch einmal einen größeren Empfang. Zum Abschluss sprach Altbischof Hirschler selbst. Er zeigte uns eine Karikatur von Charly Brown und dem Hund Snoopy. Beide sitzen auf einem Steg und schauen versonnen auf einen See hinaus. Charly Brown sagt: „Eines Tages werden wir alle sterben, Snoopy.“ Und Snoopy antwortet: „Ja, das stimmt. Aber an allen anderen Tagen nicht.“ Das ging uns sehr unter die Haut. Dieses klare Signal: Ich weiß, ich werde sterben. Aber bis dahin gibt es noch etliche Tage, da nicht. Da will ich mit euch leben.

So lasst uns leben. Im Wissen darum, dass wir endlich sind. Im traurigen und dankbaren Gedenken an unsere Lieben. Und in der noch größeren Zuversicht, dass Gott bei uns ist an allen Tagen unseres Lebens und auch im Sterben. Und dass wir auf Gottes große Zukunft zugehen.

Amen.

Predigt über Gen 2,4-9.15:

Gnade sei mit euch von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

eine Erinnerung an den allerersten Anfang ist uns heute als Predigttext gegeben. Eine Erinnerung an den allerersten Anfang, als all das noch nicht da war, was wir heute als Welt und als Schöpfung kennen. So lesen wir im 2. Kapitel der Bibel, 1. Mose 2:

4b Es war zu der Zeit, da Gott der HERR Erde und Himmel machte. 5 Und alle die Sträucher auf dem Felde waren noch nicht auf Erden, und all das Kraut auf dem Felde war noch nicht gewachsen. Denn Gott der HERR hatte noch nicht regnen lassen auf Erden, und kein Mensch war da, der das Land bebaute; 6 aber ein Strom stieg aus der Erde empor und tränkte das ganze Land. 7 Da machte Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen. 8 Und Gott der HERR pflanzte einen Garten in Eden gegen Osten hin und setzte den Menschen hinein, den er gemacht hatte. 9 Und Gott der HERR ließ aufwachsen aus der Erde allerlei Bäume, verlockend anzusehen und gut zu essen, und den Baum des Lebens mitten im Garten und den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Und Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.

Eine Erinnerung an den allerersten Anfang. Drei kurze Gedanken dazu:

1. Eine Erinnerung als Lebensdeutung
2. Eine Erinnerung als Verpflichtung
3. Eine Erinnerung als große Zusage

1. Eine Erinnerung als Lebensdeutung

Eine Erinnerung an den allerersten Anfang. Eine Erinnerung, die eine Deutung ist. Deshalb erzählt die Bibel diese alten Geschichten. Sie sind ja keine Beschreibungen im naturwissenschaftlichen Sinne. Das haben die Menschen auch damals schon gewusst, deshalb gibt es in der Bibel gleich zwei Schöpfungsgeschichten. Im ersten Kapitel die berühmte Erzählung von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen. Und im zweiten Kapitel unsere, noch ältere zweite Geschichte: Am Anfang ist trockenes Land. Und dann bringt Gott Wasser dazu, so entsteht der Garten Eden. Das Paradies. In den setzt Gott den Menschen, damit er ihn bebaut und bewahrt. Gartenliebhaber wissen jetzt, warum sie das so gern machen: Die ursprünglichste Tätigkeit des Menschen ist die des Gärtners. Gott setzt den Menschen in den Garten Eden.

Keine wissenschaftliche Beschreibung. Die Naturwissenschaftler haben ihre eigenen Geschichten zur Entstehung des Weltalls und unserer Welt – über viele Milliarden Jahre. Unser Landesbischof war neulich hier und hat vorgelesen und erzählt zur Entstehung des Kosmos. Für mich sind das unterschiedliche Perspektiven auf die Sache. Die Astronomen und Physiker beschreiben die Entstehung, hoch faszinierend. Die biblischen Schöpfungsberichte beschreiben nicht gegenständlich den Vorgang der Schöpfung, sondern sie deuten unsere Welt und unser Leben. Erinnerung an die Schöpfung als Lebensdeutung.

Die erste und wichtigste Lebensdeutung: Wir verdanken uns nicht uns selbst. Keiner von uns hat sich selbst hervorgebracht, und die Mitschöpfung um uns herum auch nicht. Wir verdanken uns den Menschen, die vor uns waren. Und: Gott haucht dem Menschen den Lebensatem ein, das macht ihn zum Menschen. Warum gibt es mich? Weil Gott die Menschen und auch mich will. Kurt Marti dichtet: „Ich wurde nicht gefragt bei meiner Geburt. / Niemand wurde gefragt außer dem Einen / und der sagte Ja.“

Gott hat Ja gesagt zu dir. Eine unerhört wichtige Lebensdeutung. Niemand darf dich und deinen Wert in Frage stellen. Denn Gott hat dich gewollt. Niemand darf den Wert irgendeines Menschen in Frage stellen. Nicht in Konflikten, nicht in einem Flüchtlingslager, nicht auf einer Palliativstation. Der Eine hat ja gesagt. Niemand darf meinen und deinen Wert in Frage stellen. Auch ich selbst nicht, auch wenn ich „durchhänge“, auch wenn ich mich sehr schwach fühle, oder wertlos.

Ganz kurz nur: wir hören diesen zweiten Schöpfungsbericht nur in Teilen. Die Deutung geht in dieser Schöpfungsgeschichte weiter.

Erst ist ein Mensch geschaffen. Aber Gott sieht: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Deshalb schafft er ihm eine Gefährtin, die ihm entspricht. Er schafft Mann und Frau – das wäre ein ganz eigenes Thema, und was für eins, mit welchen Glanzpunkten und welchen Dramen!

Und dann: Im Garten Eden steht auch der Baum der Erkenntnis. Da ahnt man schon die Tragödie: Den sollen Adam und Eva nicht anrühren, tun sie aber doch. Und seitdem leben wir nicht mehr im Paradies, sondern „jenseits von Eden“. Das ist die gesamte Lebensdeutung dieser Geschichten: Das Leben ist nicht einfach nur paradiesisch, sondern höchst zwiespältig. Ja, ich erlebe immer noch viel Erinnerung an das Paradies. Die Schönheit der Spätsommersonne, das Blühen der Rose, der Zauber eines Musikstückes, die Liebe eines Menschen. Aber ich lebe auch die Abgründe des Lebens. Die Schöpfung ist auch nicht nur wunderbar, sondern sie beherbergt auch Krebszellen und tödliche Viren. Das Leben ist beides: schön und schwierig, wunderbar und mühsam, von unfassbarer Liebe und abschreckender Grausamkeit. So leben wir: Jenseits von Eden und doch immer noch in Erinnerung an das Paradies, die immer wieder in unser Leben hineinleuchtet.

2. Eine Erinnerung als Verpflichtung

Gott setzt den Menschen in den Garten um ihn zu bebauen und zu bewahren. Dieses Konzept ist in der Neuzeit kritisiert worden. Gerade auch, weil es im ersten Schöpfungsbericht heißt: Macht euch die Erde untertan. Die Kritik sagt: Ihr seht, was mit diesem Konzept, mit dieser Weltdeutung gemacht worden ist. Macht euch die Erde untertan: Die Erde wird ausgebeutet. Die Erde ist ökologisch an den Rand dessen gebracht worden, was sie verkraften kann. Der Klimawandel ist die dramatischste Konsequenz. Die derzeitigen Bilder von den riesigen Feuern in den USA sind geradezu ein Gegenbild zum Bild des Gartens Eden. Heiße, zerstörte, trockene Erde, auf der nichts mehr leben kann – statt des von Flüssen gewässerten fruchtbaren Garten Edens. Keine Frage, dazu haben wir Menschen tüchtig beigetragen.

Die Geschichte dahin ist lang, auch das Christentum spielt eine Rolle darin. Nur – die biblische Weltdeutung der Schöpfungsgeschichte kann dafür nicht in Anspruch genommen werden. Die Ausbeutung der Erde hat andere Ursprünge. Der Philosoph Descartes etwa bezeichnet den Menschen als „Beherrscher und Besitzer“ der Erde. Das hatte weitreichende Folgen, bis heute.

Das biblische Bild ist anders: Die Erde, Pflanzen und Tiere sind unsere Mitgeschöpfe. Sie sind Gaben Gottes, die uns anvertraut sind. Hier ist die Erinnerung an die Schöpfung eine große Verpflichtung. Gott der HERR nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte. Martin Buber übersetzt: „Gott setzte den Menschen in den Garten, um ihn zu bedienen und zu hüten.“ Bedienen und hüten, bebauen und bewahren! Das ist wörtlich zu nehmen. Gott würdigt uns, seine Partner zu sein in der Gartenpflege, in der Bewahrung der Schöpfung. Und das hat sehr konkrete Konsequenzen. Für meinen eigenen Lebensstil, für meine Fortbewegung, meinen Energieverbrauch. Und das hat Konsequenzen für die Politik. So wie wir gelernt haben, dass es eine soziale Marktwirtschaft braucht, die Menschen schützt, auch durch Gesetze, so brauchen wir eine ökologische Marktwirtschaft, und zwar möglichst weltweit, die alle verpflichtet, pfleglich mit der Schöpfung umzugehen.

Ich zitiere dazu einige Worte von Dorothee Sölle, die ein sehr pointiertes Bekenntnis zu Erde geschrieben hat. „Ich glaube an Gottes gute Schöpfung - die Erde. Taste sie nicht an! Sie gehört nicht Dir! Und keinem Konzern! Wir besitzen sie nicht wie ein Ding, das man kauft, benutzt und wegwirft. Sie gehört einem anderen. Wie könnten wir von Gott reden, ohne die Blumen, die Gott loben, ohne den Wind und das Wasser, die im Rauschen von ihm erzählen. Ich glaube an Gottes gute Schöpfung - die Erde. Sie ist für alle da, nicht nur für die Reichen, sie ist heilig, jedes einzelne Blatt, das Meer und das Land, das Licht und die Finsternis, das Geboren Werden und das Sterben. Alle singen das Lied der Erde. Wir wollen ihren Rhythmus bewahren und ihr Glück leuchten lassen. Sie beschützen vor Habsucht und Herrschsucht.”

3. Eine Erinnerung als große Zusage

Die große Zusage lautet: Sorgt euch nicht! So sagt es Jesus. Im Evangelium dieses Sonntags haben wir gehört, wie er uns an die Schöpfung erinnert: Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Deshalb gilt das Wort Jesu: Sorget nicht. Sorgt euch nicht um euer Leben. Schaut doch auf Gottes gute Schöpfung. So sorgt Gott für die seinen!

Ist das zu leichthin? Natürlich gibt es genug Gründe, sich zu sorgen, und zwar sehr gute, vom Klimawandel bis zur Wahl in den USA, von persönlichen Krisen bis zur Corona-Pandemie. Natürlich. Aber die Erinnerung an die Schöpfung erinnert an die Schöpfermacht Gottes. Darum: Sorgt euch nicht! Martin Luther sagt: Wirf dein Herz mit seinen Sorgen Gott auf seinen Rücken, denn er hat einen starken Hals und Schultern, dass er es wohl tragen kann.

Gott sorgt für die Vögel und sogar für die Feld­blumen, dann doch auch für euch, sagt Jesus. So erinnert er an die Schöpfung und an den Schöpfer. Vertraut ihm doch, dass eu­er Leben in seiner Hand steht. Mitsamt unseren Sorgen, die uns nun einmal drücken. Mitsamt dem, was uns belastet. Aber diese Sorgen haben dann auch nicht das letzte Wort. Alle eure Sorgen werft auf ihn, denn er sorgt für euch. Du bist nicht allein mit deinen Sorgen. Da ist einer, in dessen Hand du stehst mitsamt deinen Sorgen. "Er sorgt für euch". Wir haben einen fürsorglichen Gott, der die ganze Welt in seinen Händen hält. So wie er es vom allerersten Anfang an tat.

Amen.